Galerie Gut Gasteil

Ausstellungseröffnung

Ein Kunstraum, getragen von hexagonalen Strukturen

Johann Berger, 2002

 

Liebe Charlotte, lieber Johannes, sehr geehrte Damen und Herren!

Vielleicht mag es Sie erstaunen, wenn Sie von einem Mitarbeiter eines Wirtschaftsmagazines einige Sätze zum neuen Landschaftsprojekt der Seidls erwarten. Denn zu groß erscheint die Kluft zwischen meinem Brotberuf und einem Projekt, das jedem vordergründig ökonomischen Kalkül entgegensteht. Nicht einmal die ohnehin fragile thematische Brücke, wie sie der Kunstmarkt anbietet, kann mich aus der GEWINN-Zone auf das Terrain der „Hexagonalen Strukturen“ führen. So darf ich des taxierenden Blickes entbunden und jenseits des profitorientierten Kalküls für das Kompliment danken, das mir mit der Einladung und mit dem Raum für meine Überlegungen entgegengebracht wurde.

In der Tat, es ist ein mutiges Unternehmen, wenn man in einer Zeit, in der die öffentlichen Einrichtungen das kulturelle Leben wieder verstärkt den Impulsen – und den Finanzierungspotenzialen – der privaten Initiative überantworten, wenn man also in dieser Zeit ein Konzept verfolgt, das paradox erscheint. Es entrückt das Kunstwerk, indem es ihm einen topografischen, einen formalen und zuweilen sogar inhaltlichen Ort zuweist. Die Arbeiten erscheinen nicht mehr als Nomaden des Kunstmarktes, die beliebigen Ausstellungsorten zugeführt werden können, etwa so, wie es beispielsweise mit Arbeiten aus der Land-Art, mit den Steinspiralen Smithsons etwa, möglich war. Die Arbeiten sind ortsbezogen und damit nicht mehr ein Äquivalent zu den Kapitalströmen der internationalen Finanzmärkte. Sie sind mit ihrer Ortsbindung auch dem Verwertungszusammenhang der traditionellen Archive, also der Sammlungen und Museen enthoben. Diese radikale konzeptuelle Fokussierung auf einen formalen wie geografischen Topos widerspricht dem Kunstverständnis entgrenzter Freiheit und eröffnet doch gleichzeitig die Freiheit von den Verwertungszwängen des Marktes und all das dank der Finanzierung durch (private) Sponsoren, denen an dieser Stelle Referenz zu erweisen ist. Wir begegnen so der Paradoxie einer Kulturökonomie, innerhalb derer das Kunstwerk auf die Valorisierung durch das Archiv hin geschaffen wird, wo es nebenbei gesagt, meist im Depot verschwindet. Hier wird die Landschaft zum Archiv und die Seidls üben sich in einer der Alchemie nicht unähnlichen Kunst, indem sie den profanen Raum in einen Kunstraum verwandeln. Dieser ganz und gar nicht virtuelle Raum unterscheidet sich jedoch vom traditionellen Archiv, das seine Bestände mit einer ideellen Ewigkeitsoption pflegt. Das ist unter freiem Himmel naturgemäß undenkbar.

Tonerde wurde immer wieder zum Trägerstoff solcher Paradoxien, beispielsweise, wenn Schiffe aus gebranntem Ton und Edelstahl die Seidl’schen Werkstätten verließen, ohne jemals ein Gewässer durchqueren zu können. Stattdessen wollen wir sie als Sendboten ästhetischer Programme verstehen, als Vorwegnahmen jener Konzeption, die heute in viel größerem Maßstab verwirklicht werden soll. Material des künstlerischen Zugriffes ist nun die vorgefundene Landschaft. Den verklärenden Romantizismen zugeneigt, mag sie mancher Städter als Naturlandschaft mißverstehen. Wer jedoch das Land bewirtschaftet, weiß nur zu gut, wie sehr es sich hier um eine Kulturlandschaft handelt. Seit Jahrtausenden greift der Mensch ein, älteste Fundstücke bezeugen,

daß nur einige Meter von diesem Platz entfernt, in der Bronzezeit Metall verarbeitet worden ist. Die Kulturen haben sich in die Landschaft eingeschrieben. Trassen alter Verkehrswege, Reste von Kultstätten, die über das Mittelalter hinaus auf entferntere Vergangenheit verweisen, Fundstücke aus archäologischen Grabungen, das alles läßt die Landschaft gleichsam lesbar erscheinen. Wer die Phänomene als Zeichensystem versteht, wird Bedeutungen finden. Bereits die Beschreibung und Darstellung einer geografischen Örtlichkeit, also die Topografie, verweist uns in diesem Begriff auf den topos, das ist der Ort, das Gelände, die Gegend, verweist uns aber gleichzeitig auf die Kunst der Rhetorik, in der ein topos als allgemein anerkannter Gesichtspunkt verstanden wird. Die beiden griechischen Vokabel topos und gráphein, das ursprünglich neben „schreiben“ die Bedeutung von „einritzen“ hatte,

empfehlen uns den Ort, dem etwas eingeschrieben ist, in dessen Oberfläche etwas eingeritzt wurde, unter dessen Oberfläche etwas verborgen ist oder aus dessen Tiefen Verborgenes zutage tritt. Das ist der Stoff, aus dem antike Mysterien, wie die eleusinischen oder die dionysischen, ihre Kraft beziehen.

Regelmäßige Strukturen, wie sie Mathematik und Geometrie bereitstellen, begleiten die Geschichte von Philosophie und Kunst als Motive der Welterklärungsversuche. Erinnert sei hier an Platons vier Grundstoffe, denen er vier geometrische Körper zuordnet, erinnert sei an die Pythagoräische Schule, an die Proportionsstudien Da Vincis und Dürers, deren Echo noch bei Corbusier und der Grundlehre des Bauhauses zu vernehmen war. In jüngerer Zeit erfuhr das Repertoire mathematischer Verfahren durch die Berechnung chaotischer Systeme eine Bereicherung. Wir verdanken das dem Versuch, Börsenkurse vorauszusagen und letztendlich führte es dazu, daß ich an meinem Computer sitzend Gebirge und Landschaften in beliebiger Gestalt erschaffen kann. Generationen das Apfelmännchen des Bennoit Mandelbrot als evolutionäre Überwindung jenes Menschenbildes feiern, wie es seit Da Vinci in die Proportionen des Pentagrammes eingeschrieben, den Goldenen Schnitt feierte. Es wird nicht zuletzt eine Frage der Mode sein, denn die Popularität wissenschaftlicher wie künstlerischer Positionen unterliegt scheinbar ähnlichen Gesetzmäßigkeiten wie die vertikale Wanderschaft des Rocksaumes – ein Phänomen übrigens, das auch schon in Relation zu den Kursschwankungen an den Börsen interpretiert worden ist. Es scheint, daß das Bedürfnis nach möglichst einfachen Erklärungsmodellen mit der Komplexität der Lebensumstände wächst. Rasante gesellschaftliche Entwicklungen bieten der Scharlatanerie ideale Entfaltungsmöglichkeiten. Wetten, daß sie im Buchhandel demnächst über die geheimen Gesetzmäßigkeiten der Kathedrale von Chartre (oder der Cheops-Pyramide oder des Monuments in Stonehenge) in der New Economy aufgeklärt werden?

Indessen verweigern sich die Seidls den Moden der Märkte und verfolgen mit bemerkenswerter Konsequenz ihre Arbeit. Das heißt aber nicht, daß hier nicht mit wacher Aufmerksamkeit verfolgt wird, was in der Welt vor sich geht. Im Gegenteil. Das heißt auch nicht, daß die Diskurse des Kunstbetriebes das Gut Gasteil nicht tangieren. Als ich beispielsweise anläßlich einer Recherche zu der einflußreichen Saatchi-Sammlung die Suchmaschinen im Internet bemühte, bin ich auf die Adresse der Seidl-Homepage gestoßen. Ein anderer Suchbegriff führte mich ebenfalls zu dieser Adresse im globalen Dorf, es ist unschwer zu erraten, es war eine Suche nach Links zum Thema Sechseck. Eine nicht sehr ergiebige Recherche übrigens. Vielleicht ein Fundstück verdient hier eine Erwähnung: Am Santa-Fe-Institut in New Mexico wurde untersucht, in welchen Netzwerken Wissenschaftler zusammenarbeiten. Dabei ist herausgekommen, daß das Netz der Zusammenarbeit bei Hochenergiephysikern dichter gewebt ist – nur vier Kooperationspartnerschaften verbinden im Durchschnitt zwei beliebige Hochenergiephysiker miteinander – als das Netz der Computerwissenschaftler, das im Schnitt neun Verbindungen benötigt. Bezogen auf die „Scientific Community“ insgesamt kommt die zitierte Untersuchung zum Ergebnis: Über durchschnittlich sechs Ecken arbeiten alle Wissenschaftler zusammen.

Ob die Dichte des Gefüges, in dem Charlotte und Johannes ihre Landscbaftsprojekte verfolgen, mit jener der Wissenschaftsnetzwerke vergleichbar ist, ja sie vielleicht noch überbietet, wird Überlegungen an anderem Ort zu überantworten sein. Was jedoch zur Faszination dieser Unternehmen zweifellos beiträgt, ist die internationale (um nicht zu sagen: globale) Dimension. Wenn die eingeladenen Künstlerinnen und Künstler im wahrsten Sinn des Wortes aus aller Welt nach Gasteil kommen, um hier zu arbeiten, dann stehen hinter den Werken, die in der Landschaft verbleiben, ja Begegnungen mit allen Herausforderungen, die mit menschlichen und kulturellen Unterschieden zusammenhängen.

Aber eben diese Begegnungen prägen dem Ort seinen spezifischen Charakter auf.

Wie würde ein Diagramm aussehen, das die Verbindungslinien zu den Künstlerpersönlichkeiten zeigt, die in den vergangenen Jahren hier gearbeitet und ausgestellt haben? Und mit welchen Übereinstimmungen und Interferenzen könnten wir konfrontiert sein, wenn das Liniengeflecht dieses Diagrammes über dem Satellitenfoto zu liegen käme, das Johannes bearbeitet hat? Es wird nicht notwendig sein, daß wir diesen Versuch in die Praxis umsetzen. Das Gedankenspiel zeigt den gleichsam vertikalen Aspekt dieses Bildes auf:

  • Als Grundlage dient die vorgefundene Landschaft, wie sie aus einer Perspektive der Erdumlaufbahn, des Satelliten oder eines Flugzeuges darstellbar ist.
  • Das Foto zeigt – und das ist die nächste Ebene – die Topografie der Landschaft, also das, was in sie eingeschrieben ist.
  • Nun geht es um die Auswahl eines Zeichensystemes, das die Dechiffrierung der Topografie erlaubt.
  • Das erfordert einen Kanon an verbindlichen Übereinkünften, die einen Diskurs ermöglichen.
  • Daraus mögen Begegnungen erwachsen, die weitere Zeichen in die Landschaft einbringen können.
  • Einige davon werden hoffentlich ökonomische und organisatorische Rahmenbedingungen vorfinden, die das jeweilige Vorhaben ermöglichen.
  • Auf den Ebenen einer materiellen oder einer virtueller Realität mögen dann die neuen Zeichen vorfindbar sein, womit wir sozusagen wieder beim Ausgangspunkt angelangt sind und aus der Vertikalen ein – wie könnte es anders sein – Hexagramm geworden ist.

Letztendlich bleibt mir, euch für dieses neue Projekt viel Glück zu wünschen, Begegnungen, die euch persönlich und eurer künstlerischen Arbeit gut tun. Und Kooperationspartner mögen es als wertvolle Erfahrung sehen, wenn sie subventionierend oder als Sponsoren das eine oder andere Kunstwerk mit auf die Welt bringen helfen. Denn damit eröffnen sie euch, sich selbst und uns, die wir so gerne zu euch auf Besuch kommen, ein Terrain, das mit dem aktuellen Projekt einen radikalen, das heißt, einen auf die Wurzeln bedachten Ansatz gefunden hat, der tief unter der Oberfläche zeitgenössischer Diskurse seine Wirkung bereits zu entfalten beginnt. Wie eine schöne Metapher zu diesem Gedanken greift ein Film, den ich Ihnen somit ankündigen darf, ein Element aus dem Wirken eines Naturforschers des 18. Jahrhunderts auf. Die „Chladnischen Klangfiguren“ nach ihrem Entdecker benannt, sind Muster, die entstehen, wenn Körper durch Schall in Schwingungen versetzt werden. Chladni konnte diese Muster nachweisen, indem er Sand auf eine Metallplatte streute und die Platte dann mit einem Violinbogen in Schwingungen versetzte. Ich freue mich über diese Programmfolge deshalb so sehr, weil die Wissenschaft des 18. Jahrhunderts die Probleme eines auf Zweckrationalismus reduzierten Positivismus noch nicht so kannte wie unsere gegenwärtige und das noch junge Projekt der Seidls genau in diesen Grenzbereich zielt, der die Wirkungsbereiche der Wissenschaft und jene eines sehr weit gefassten Kunstverständnisses üblicherweise zu trennen pflegt. Isaak Newton, der eine Generation vor Chladni wirkte, hat in seinem forscherischen Doppelleben diese Grenze nicht überwinden können. Möge es euch besser gelingen!

Ihnen, sehr geehrte Damen und Herren, danke ich für die Aufmerksamkeit, mit der sie meinen Ausführungen begegnet sind, und wünsche Ihnen noch viele anregende Abende hier auf Gut Gasteil!

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Johann Berger

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