Gespräch über Wortkörper und Literatur

Sprache, Text, Zeichen, Körper

WORTKÖRPER

Johann Berger im Gespräch mit Harald Kollegger und Helmuth A. Niederle

 

Veröffentlicht in:
Wortkörper
Eine Anthologie des Österreichischen PEN-Clubs
2016 herausgegeben von Harald Kollegger und Helmuth A. Niederle

Berger: Dass meine Arbeit und euer redaktioneller Zugang unterschiedliche Perspektiven eröffnen, liegt auf der Hand. Und dieses Auf-der-Hand-Liegen möchte ich euch eingangs zumuten. Ich packe nun ein in Aluminium gegossenes Objekt aus, das den Begriff „telos“ zeigt und lade euch ein, diesen Begriff tatsächlich in die Hand zu nehmen. Während ich rede, dem Gehege meiner Zähne entfleucht sozusagen der flatus vocis, habt ihr „telos“, den Begriff des Zwecks und des Ziels, mit Händen zu (be-)greifen. Genau das ist es, was ich in meiner Arbeit versuche:
Diese sinnliche Gewissheit des Begriffs dem Wort zu eröffnen.
Der geschriebene Text hingegen bleibt metaphorisch. Fritz Mauthner behauptete, Sprache kann nicht anders, als metaphorisch zu sein. Ich hingegen versuche, über dieses Postulat hinausschreitend, dem Begriff einen Körper zu geben. Das war ja auch der Ausgangspunkt dieser Anthologie, wobei der Begriff „Wortkörper“ in eurer Ausschreibung einem der Metapher verhafteten Zugang anempfohlen bleibt.

Niederle: Als ich den Begriff „Wortkörper“ noch nicht gehört gehabt hatte, hatte für mich das verschriftete Wort stets einen Körper gehabt. Besonders augenfällig war dies bei Schriften, die in Europa nicht verbreitet sind, beispielsweise bei Hieroglyphen. Da empfinde ich das Bild als Körper, und das greift über das hinaus, wie wir Sprache auffassen. Auch die chinesischen Charaktere erlebe ich so. Wenn man das Schriftzeichen für Baum sieht, bemerkt man unschwer wie aus einem Stamm die Äste herauswachsen: 树 Mehrere Zeichen neben- und übereinandergesetzt bedeuten Wald: 森林 Plötzlich stürzt die Sprache hinein in ein Bild, in die Körperlichkeit. Im Deutschen kann man Ähnliches erleben, wenn man an die Groß- und Kleischreibung denkt. Das ist einer der Gründe, warum ich die Kleinschreibung massiv ablehne, weil die Unterschiede verschwinden. Es wird alles gleich gemacht und plötzlich weiß man nicht mehr, wovon die Rede ist. Der Satz – Wäre er doch nur Dichter! – meint etwas ganz anderes als der – Wäre er doch nur dichter! Nicht jedes Wort hat dieselbe Körperlichkeit. Es ist ein Unterschied, ob „Floh“, das Viech meint, oder das Imperfektum von fliehen.

Kollegger: Ja, und rein phonetisch und englisch gedacht, könnte es sich bei „Floh“ auch um „flow“ handeln. Nach dem, was ich in der Fachliteratur der Neuropsychologie gelesen habe, umschreibt „flow“ ein Glücksgefühl, ein Empfinden des Gelingens: Sportler sagen, wenn sie vom „flow“ erfasst werden, nicht „ich laufe“, sondern „es läuft mich“, Schriftsteller in einem ähnlichen Zustand nicht „ich schreibe“, sondern „es schreibt mich“.

Für mich ist der Wortkörper ungleich dem, was du gesagt hast, Helmuth, zum Teil auch aus dem Dunkel der Begriffsgeschichte konstituiert. Ich sehe mich mit Worten konfrontiert, von denen ich weiß, dass sie über Jahrhunderte durch viele Hände gegangen sind. Aber vom Gebrauch der Sprache vor tausend Jahren habe ich keine Ahnung. Mancher gegenwärtige Begriff trägt also eine historische Last mit sich, eine Art amorphes Zubrot. Aus diesem Grund gibt es für mich fette und magere Wortkörper. Die, die sehr oft oder auch differenziert und entschieden gebraucht wurden, haben Gewicht angesetzt. Die neugeborenen Wortkörper hingegen, welche die Gegenwart hervorgebracht hat, also vielleicht auch der Terminus „flow“, erscheinen mir, auf den ersten Blick wenigstens, wie Leichtgewichte.

Berger: Wobei das Leichtgewicht „flow“ dem Autor Csíkszentmihályi auf der profanen Ebene des Marktes doch ein bisschen etwas eingebracht hat. Er beschreibt, wie konkrete Arbeitserfahrungen, die mit Arbeitsleid kaum etwas zu tun haben, sondern eher glückliche Fügungen darstellen, einen bemerkenswerten Erlebnishorizont eröffnen.

Helmuth, was uns unterscheidet, sind der Gebrauch und das Verständnis des Begriffes „Körper“. Du nimmst in der Fläche der Schrift, auch dort, wo es ein Piktogramm ist, Körperlichkeit wahr. Du bringst diese Gedankenleistung schon mit und bemerkst in der Fläche Räumlichkeit – dank deiner Rezeptionsgewohnheit, und sei es auch nur im typographischen Zwischenraum, dem Spatium. Dem gegenüber ist für mich im Bereich der bildenden Kunst die Körperlichkeit immer an die dritte Dimension gebunden. Das ist etwas, was der Fläche vorenthalten bleibt. Somit ist der Begriff der Körperlichkeit, dort, wo er der Fläche verhaftet ist, zwangsläufig metaphorisch oder, wenn man so möchte, symbolisch. Jedenfalls ist es ein Abstraktum, das handgreiflicher Präsenz ermangelt. Und genau daraus ergibt sich der Gegenstand meines Engagements. Entschuldige, wenn ich jetzt auf einzelnen Worten herumreite, aber ein wesentlicher Moment für mich ist, dass das Engagement, mit dem ich mich dem Begriff des Wortkörpers zuwende, sich genau dorthin adressiert. Insofern darf ich um Verständnis bitten.
Um noch einmal auf Mauthners Beobachtung zurückzukommen: Kann Sprache anders, als metaphorisch sein?

Kollegger: Dazu fällt mir als Nervenarzt ein, dass Menschen, beispielsweise wenn sie einen Schlaganfall erleiden, ihre Sprache verlieren können. Der Sprachverlust kann viele Formen annehmen. Manche Patienten können nicht mehr schreiben, andere verstehen nicht, was man ihnen sagt oder können selbst nur radebrechend oder gar nicht mehr sprechen.

Dieses Objekt, das du uns in die Hand gegeben hast, der Wortkörper „telos“ erinnert mich in seiner Gestalt an einen Hirnstamm. Auf engem Raum sind dort hochfunktionelle Neuronen verpackt. Deswegen verursachen winzige Läsionen in dieser Hirnregion unter Umständen schwerwiegende Defizite, während kleine Läsionen anderswo, beispielsweise unter der Hirnrinde, klinisch stumm bleiben können. Die anatomische, gleichsam organische Struktur, die du als Wortkörper handgreiflich gemacht hast, verweigert mir ihre Semantik, hält mich aber dennoch an, Tastempfindung und Wortverständnis in Beziehung zu setzen.

Wenn Patienten in bestimmten Regionen ihrer dominanten Hemisphäre Läsionen aufweisen, kann daraus eine Globalaphasie resultieren. Dies gilt aber nur für Menschen, deren Sprache eher analytisch oder, wenn man so will, alphabetisch, organisiert ist. Andere, wie beispielsweise Japaner, die Kanjis, also bildhafte Wortelemente, verwenden, können deswegen bei gleichen Läsionen ungestört sprechen oder schreiben. Je nach Sprache sind also unterschiedliche Regionen des Gehirns aktiv. Buchstaben werden im Gegensatz zu Bildelementen bei Rechtshändern eher linkshemisphärisch verarbeitet. Ob dafür epigenetische Prägungen oder andere Lerneffekte im Spiel sind, wird unter Neurobiologen hitzig diskutiert. Möglich ist auch, dass Sprachkompetenzen wie auch das Gedächtnis nach dem Modell eines Hologramms unserem Gehirn eingeprägt sind.
Noch etwas: Wenn Japaner bei ihren Kirschblütenfesten in das Blüten- und Zweiggewirr blicken, erkennen sie darin nicht selten manche ihrer Schriftzeichen wieder, während wir in Kirschbäumen vielleicht ein I oder ein H ausmachen, im Übrigen aber nur Verzweigungen und sprachlich nicht zu entschlüsselnde geometrische Körper wahrnehmen.

Berger: Du bedienst dich bei deinem Beispiel gleichsam eines konstruktivistischen Zugangs, der als Erklärungsmodell für Prägungen durchaus reichhaltig ist. Ich möchte daran erinnern, dass „typos“ Prägung heißt, „graphein“ einritzen.
Also insofern ist Typo-graphie ein einprägsames Element, das uns in unserer Sozialisation begleitet und, wie du das so schön beschrieben hast, „Fleisch wird“ im neuronalen Geflecht unserer Hirnrinde. In diesem Geflecht sind die kulturspezifischen Prägungen („typos“) repräsentiert. Was denn sonst, als das, was die Kultur uns anbietet, können wir neuronal repräsentieren.
Insofern ist die Literalität in ihren kulturellen Unterschieden prägend. Dass sich das jetzt auch im klinischen Befund niederschlägt und ausdrücken lässt, für diese Bemerkung darf ich mich bedanken. Ähnliches ist mir zwar in der Literatur untergekommen, wenn es sich nun aber auch noch mit deiner beruflichen Erfahrung deckt, dann ist das schon eine spannende Geschichte. Zumal es dieses alte Narrativ, das unsere Kultur begleitet, nämlich das von der Fleischwerdung des Wortes, in eine spannende Aktualität hebt.

Kollegger: Inwiefern?

Berger: Wenn man dem neuronalen Geflecht den Begriff des Fleisches zuordnet, dann ist das Wort, das dem Gehege meiner Zähne entfleucht und in eure Wahrnehmungsapparate eingedrungen ist, letztendlich über den Weg der geistigen Verarbeitung in den neuronalen Zuständen eures Wahrnehmungsapparates, Fleisch geworden.

Kollegger: Synapsen geworden, elektromagnetisches Muster und vielleicht Hologramm geworden, auch Synthese von Neurotransmittern geworden.

Berger: Zum Beispiel, aber es kommt darauf an, wie man den Begriff . . .

Kollegger: Stofflich.

Berger: . . . des Fleisches anpackt.

Kollegger: Abgesehen von sprachlichen Prägungen, die du als bildender Künstler sehr anschaulich skizziert hast, gibt es unzählige andere, die unser Denken und Fühlen determinieren. Was mich sehr erstaunt, ist, dass es einen großen Streit gibt in der Linguistik, ob die Grammatik als angeborener Gedanke  . . .

Berger: Ja, Chomsky hat das behauptet.

Niederle: . . .  als eingeborene Idee, als Werkzeug, was auch immer, im Gehirn vorhanden ist oder eben nicht. Diese Debatte steht, nach dem, was ich über sie gelesen habe, unentschieden. Ich bin diesbezüglich kein Spezialist, aber was mir gut gefallen hat, von einem anderen Blickpunkt aus, nämlich dem der Schriftstellerin Gertrude Stein, die ja neurobiologisch vorgebildet war, ist ihr Satz „Es ist schwer, nichts zu sagen“. Und diese ihre Behauptung verweist auch ein bisschen auf das, was du eingangs gemeint hast.

Berger: Ja, wenn es um Wortkörper geht, ist es tatsächlich schwer, nichts zu sagen.

Niederle: Ich nehme deinen Gedanken ernst, dass Sprache und Schrift Wahrnehmungen verändern. Die Japaner sehen einen Kirschbaum, der blüht, als Zeichen. Wir sehen in ihm wahrscheinlich nichts oder nur den Haufen von Ästen und Blüten. Wenn wir diese Tatsache ernstnehmen und uns vergegenwärtigen, dass es auf dieser Welt, ich weiß nicht, 6 500 Sprachen gibt, dann würde das eine bemerkenswerte Reichhaltigkeit ausdrücken. Ich möchte ja von der Voraussetzung ausgehen, dass nicht nur Japaner oder Chinesen, also Menschen, die sich dieser asiatischen Schriftzeichen bedienen, solche Bilderlebnisse haben können, sondern dass auch bei anderen Ethnien Ähnliches vorkommt. Umso behutsamer müssten wir eigentlich mit jenen Sprachen umgehen, die an der Grenze des Aussterbens sind, um, auch in deinem Sinne, die Wortkörper zu bewahren, bevor sie endgültig verschwinden. Angeblich stirbt jeden Tag eine Sprache.

Kollegger: Für mich ist auch die Beobachtung interessant, dass man auf den ersten Blick durch einen Wortkörper, wenn man ernstnimmt, was du mit Begreifen und dem Begriff meinst, ein unglaubliches Chaos stiften kann. Im Wortkörper „telos“ erkenne ich durch das Betasten ja nicht einmal das Wort „telos“. Wenn ich aber weiß, dass deine Intention, Buchstaben aus der Ebene hochzunehmen, graphisch, haptisch, künstlerisch zu verändern, und dann in eine Raumstruktur zu bringen, mit dem Anliegen geschieht, die Begrifflichkeit zu fördern, dann ist dieses amorphe Ding hier, für mich trotzdem ein Anstoß, die Begrifflichkeit, so wie du es möchtest, bei anderen Buchstaben, Wörtern, in der Syntax und in japanischen Schriftzeichen zu suchen. Wortkörper einer vom Aussterben bedrohten Sprache, wie du es gerade angedeutet hast, Helmuth, sollten verstanden, begriffen und gebraucht werden, um deren Verschwinden zu verlangsamen oder aufzuhalten. Wie alles, was begriffen und gebraucht wird, hat der Umgang mit diesen Wortkörpern auch einen konservierenden Aspekt. Haptische Eindrücke erwecken Gedanken, auch wenn mir der Wortkörper anfangs nichts sagt. Weil du ihn geschaffen hast, sehen sich meine Nervenbahnen veranlasst, deine Intention weiterzuspinnen. Gut möglich, dass dadurch neue Segmente der Existenz erhellt werden.

Berger: Ich bringe uns alle, mich eingeschlossen, in die Situation eines Analphabeten. Denn ich entziehe die Zeichen der gelernten Lesekunst in dem Moment, in dem ich sie aus der gewohnten Fläche löse und sie in den Raum projiziere. Vor allem, wenn die Konturen dieser Zeichen nicht an den Enden stehen, sondern in der Mitte des Wortkörpers, sind sie nur schwer nachvollziehbar. Dann sind die betrachtenden Menschen gefordert, in Querschnitten zu denken, um in diesem gedachten Querschnitt, das verborgene Schriftzeichen noch zu entdecken.
Die Frage ist also, wozu mache ich das denn eigentlich, wenn man das Wort jetzt nicht mehr lesen kann? Ja, es entzieht sich dem Sakkadensprung der Augen. Dieser ist die Grundlage jedes Leseakts. Aber es eröffnet mir die Möglichkeit, mit dem taktilen Sinn etwas zu begreifen, was sich dem Begriff der Hand bislang entzogen hat. Und nachdem wir nicht nur Augentiere sind, und weil die zivilisatorische, kulturelle Menschheitsgeschichte wesentlich auf den Gebrauch der Hände zurückzuführen ist, ist es mir doch auch ein Anliegen, den taktilen Sinn mit diesen Objekten zu bedienen – und mir ein Abenteuer zuzugestehen, von dem ich immer wieder auf das Neue überrascht bin.
Denn die Auseinandersetzung bzw. die Befassung mit dem Bedeutungsumfeld des Begriffs „telos“ zum Beispiel, der soeben durch eure Hände gegangen ist, kommt einer spannenden begriffsarchäologischen Arbeit gleich. Wir haben es da mit einer unter Anführungszeichen ausgestorbenen Sprache zu tun. Aber was heißt „ausgestorben“ in diesem Zusammenhang?
Die Narrative, die mit diesem Begriff zu tun haben, sind lebendig. Und zwar nicht nur im Wissenschaftsfeld der Teleologie, die auf ihn verweist, und nicht nur in den entlegenen Terrains philosophischer Diskurse, in denen es immer wieder darum geht, ob die Geschichte jetzt an ein Ende gekommen ist oder nicht. Sondern wir sind überall mit dem Begriff, konfrontiert, wo wir die Welt lesen – auch wenn wir es nicht wissen. Sei es in der Betrachtung von Kirschblüten, oder sei es in der Beobachtung von Schicksalen, mit denen wir es in der eigenen Biographie oder in den Biographien geliebter Menschen, zu tun haben.
Wenn hinter dem, was geschieht, hinter dem, was Geschichte ist, so etwas wie Sinn gesucht wird, wenn wir also meinen, dass die Welt auf verschiedenen Ebenen gelesen werden möchte, dann haben wir es, glaube ich, mit einer Grundverfasstheit zu tun, die uns Menschen gemeinsam auszeichnet.

Kollegger: Zum Thema unter- und übergewichtige Wortkörper möchte ich noch etwas sagen. Es könnte sein, dass Marshall McLuhans Behauptung bezogen auf das Fernsehen, die Television, the medium is the message, auch für bestimmte Begriffe und Wortkörper bzw. deren Korrelate in der nichtsprachlichen Wirklichkeit gilt.
Manche, deren Wurzeln weit zurückreichen, die also Schwergewichte sind, können so dominant auftreten, dass sie Sinnzusammenhänge, die sie angeblich transportieren, nur noch vage erkennen lassen. Im Fernsehen Fußball zu schauen, ist etwas anderes als selbst Fußball zu spielen. Beim Chatten im Internet wird der Unterschied zu einem Gespräch unter vier Augen noch größer. Television und Netz sind junge Phänomene, leiten sich aber aus alten Begriffen ab. Fernsehen und Surfen beanspruchen ein Gewicht für sich, unter dem man oftmals leidet oder gar zerbricht. Doch es kann mit ihnen auch Nützliches angestellt werden.
Das World Wide Wirrwarr entfernt die Menschen voneinander, entrückt sie in virtuelle Welten und erzeugt Sucht, wie der Neurowissenschaftler Manfred Spitzer eindrucksvoll gezeigt hat. Die Massentrance, die man in öffentlichen Räumen beim Dauereinsatz von Mobiltelefonen beobachten kann, ist für mich auch ein Hinweis darauf, dass ein Medium konterkariert, was es vorgibt, für den Einzelnen zu leisten, zumal jeder, der mit seiner Hilfe hektisch und amnesieanfällig liest, dort zum ökonomischen Nutzen anderer geduldig und bis in seine intimsten persönlichen Bereiche gelesen wird.

Niederle: Vielleicht noch zwei Dinge. Kehren wir nochmal zu den Wortkörpern zurück. Man sagt, man kann jemanden mit Worten erschlagen. Da spürt man den Wortkörper. Plötzlich leuchtet in der Metapher eine Handgreiflichkeit auf. Das Wort wird zum Prügel, zum Geschoß, zum Werkzeug der Aggressivität.
Das Zweite, was ich sagen wollte, ist, wir haben über weite Strecken in der bildenden Kunst den angenehmen Reiz, dass sie eine verlängerte Werkbank der Literatur ist oder in einem tiefen Zusammenhang mit ihr steht. Du gehst in eine Ausstellung, keiner sagt dir, was das ist, und du siehst etwas und du weißt noch nicht, was es ist. Beispiele kann man immer nennen.
Wenn also eine erklärende Beschreibung dazu tritt, sieht man plötzlich etwas erkennend und sagt, das ist tatsächlich ein Ausdruck einer ganz tiefen Geschichte. Als Beispiel möchte ich die Decken aus Queensland erwähnen, die für Aborigines-Frauen als Schlafstatt in Schutzräumen vorbereitet wurden. Ganz einfache Decken.
Wenn man hört, auf solchen Decken sind Frauen vergewaltigt worden, bekommt plötzliche eine Ausstellung solcher Decken eine ganz andere Konnotation. Vor kurzem waren es nur Wolldecken, aber plötzlich erweisen sie sich als das, was sie sind: Monument des Verbrechens und der Inhumanität.
Und du kommst von einer anderen Seite und stellst das Wort dar. Bis jetzt haben wir Worte nur ausgesprochen, haben geredet, doch plötzlich gibt es das Wort als Objekt.

Berger: Eigentlich stelle ich es hin.

Niederle: Danke für die Korrektur.

Berger: Im Zusammenhang mit der Mediatisierung wäre im Anschluss an Marshall McLuhan zu fragen, wie denn die Buchkultur als Medium selbst zur Mitteilung geworden ist. Wie beispielsweise das verbrannte Buch zum Mitteilungsträger geworden ist. Sei es in der brennenden Bibliothek von Alexandria, oder mit den brennenden Bücherhaufen, die das NS-Regime inszeniert hat.
Im Zusammenhang mit der Netzkultur, mit der wir es heute zu tun haben, ist schon gelegentlich das Ende der Gutenberg-Galaxis ausgerufen worden. Und Kurt F. Svatek spricht das auch im ersten Satz seines Beitrages an, wo er die Zweidimensionalität des Papiers und des Computerbildschirms miteinander verbindet. Aber diese Zweidimensionalität ist das, was die Schriftlichkeit von den ersten Calculi an, in denen die Typographie unserer Schriftkultur grundgelegt ist, bis zu den Touchscreens unserer Medienapparate, in ein Kontinuum gebracht hat. Insofern ist auch die Netzkultur in diesem Kontinuum angesiedelt.
Was jedoch das grundlegend Neue ist, ist alles, was mit Verfügbarkeit zu tun hat. Und was noch dazu kommt, ist eine Renaissance der Piktoralität im Netz. Weil die Verfügbarkeit der Bilderwelt, jenseits der Verschriftlichung, eine Rezeptionsgewohnheit zur Routine machen wird, die sich von den Rezeptionsgewohnheiten unserer Generation grundlegend unterscheidet.
Ich kann in dieser Entwicklung aber kein Schreckensszenario sehen, nicht zuletzt deswegen, weil es mir meine Eitelkeit verbietet, mich dem Kulturpessimismus alter Männer anzuschließen.

Kollegger: Dennoch ist es so, dass die Redensart „ein Bild sagt mehr als tausend Worte“, wegen der Bilderflut inzwischen neu formuliert werden müsste: „Ein Bild sagt oftmals weniger als drei Worte“, behaupte ich und will damit andeuten, das sich gehetztes Schauen grundlegend unterscheidet von konzentriertem Lesen.
Was mir gefällt an der spröden Welt der Wörter, ist, dass sie oder ihre handwerklich versierte Kombination oftmals ein Ganzes auftönen lassen, nämlich alle anderen, nicht geäußerten Wörter, eigentlich das Ganze der Sprache, das Ganze einer Weltansicht geradezu, für meine Begriffe oft auch das Ungesagte. Wenn man dieses assoziative Spiel übertreibt, kann passieren, was Theodor Lessing, bezogen auf die Geschichtsschreibung, „die Sinngebung des Sinnlosen“ genannt hat.
Ich bin fest davon überzeugt, das menschliche Gehirn tendiert unaufhörlich dazu, Bedeutungen in Ereignisse und Dinge hineinzulegen, die nicht in ihnen enthalten sind.

Niederle: Hineinzugeheimnissen.

Kollegger: Ja, hineinzugeheimnissen, die Welt nicht so zu sehen, wie sie ist, sondern wie wir sind.
In Hans Georg Gadamers Buch „Wahrheit und Methode“ habe ich einen Satz gefunden, den ich mir, herausgeschrieben habe. Er lautet als Fortführung von Platos idealistischen Überlegungen: „Das reine Denken der Ideen, die Dianoia ist als ein Dialog der Seele mit sich selbst stumm.“ Stummer Dialog der Seele mit sich selbst, das gefällt mir. Und dann folgt noch ein Satz, der dem Begriff flatus vocis, wir Neurologen kennen auch die Variante flatus cerebri, eine zusätzliche Dimension verleiht: „Der Logos ist der von solchem Denken“, nämlich vom stummen Dialog der Seele mit sich selbst, „ausgehende, durch den Mund tönende Strom“. Das eloquente Sprechen und das exquisite Schreiben ist nicht immer, weder für den Akteur noch den Rezipienten, ein Vergnügen. Text und Gerede können einem auch auf die Nerven gehen. Mühelos kann ich nachempfinden, was Jim Harrison als alter Mann in Erinnerung an kindliche Genüsse, das Betrachten eines Bildes bei angenehmer Musik, so ausgedrückt hat: „The lack of mind in this pleasure, how wonderful it is to love something without the compromise of language.“
Das ist hinsichtlich Wortkörperpflege, finde ich, ein erfrischendes Kontrastargument, dass man bei bestimmten Gelegenheiten erleichtert sein kann und darf, nicht denken und schon gar nicht sprechen zu müssen, zumal neurobiologische Experimente ergeben haben, dass Sprechen und auch die Auseinandersetzung mit Sprache in schriftlicher Form, ein Drittel des Gehirns lahmlegt. Um schreiben und sprechen zu können, müssen wir beispielsweise auf die meisten Inhalte des impliziten Gedächtnisses verzichten. Auch mehrere Sinneskanäle synchron zu füllen und wild entschlossen Ziele zu verfolgen, blockiert den Speicher, in dem sonst abrufbereit lagert, was unser Gehirn nie gelernt hat.

Berger: Das waren jetzt drei grandiose Schlussworte.

Niederle: So ist es. Danke.

Univ. Prof. Dr. Harald Kollegger
Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, Schriftsteller

Dr. Helmuth A. Niederle
Schriftsteller, Übersetzer und Herausgeber. Präsident des Österreichischen P.E.N. Clubs.

Johann Berger

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