Zu einer Arbeit von Saskia Seidl; 2001

Unveröffentlichter Text

„DIE KUGEL“

Johann Berger, 2001

Wien erfährt zur Zeit (2001) eine städtebauliche Entwicklung, der es an Superlativen nicht mangelt. Die Eröffnung des Museumsquartiers beziehungsweise die Inbetriebnahme von Hochhäusern an städtebaulich markanten Positionen mögen diesbezüglich als Markierungspunkte für ein Baugeschehen gelten, in dem öffentliche wie private Bauträger wesentlich an der Veränderung des Stadtbildes und einer Dynamisierung der Stadtentwicklung beitragen. Was Wien von anderen europäischen Metropolen wie Paris oder London unterscheidet, ist der deutlich ausgeprägte städtebauliche Bezuig auf nur ein Zentrum, die Innenstadt mit dem Stephansplatz als innersten Bezugspunkt. Dieser historische Mittelpunkt erfährt (spätestens seit dem Bau der UNO-City) eine Konkurrenz durch die Peripherie, in der neben den historischen und aktuellen architektonischen Ausformulierungen dessen, was als Massenquartier von den Zentren der Produktion und Verwaltung entfernt, der Reproduktion Platz zu bieten hatte, jetzt Immobilienunternehmen in den „Türmen“ Büroflächen für Firmen anbieten. Sie setzten damit markante Zeichen in der Stadt und erschließen den umliegenden „Schlafstädten“ neue topographische und ökonomische Bezüge. Von der Turmstube des Stephansdomes aus konnten die Touristen beobachten, wie an den Stadträndern diese neuen urbanen Zentren entstanden sind. Einige werden auch bemerkt haben, wie auf dieser ewigen Baustelle des Doms gearbeitet worden ist. Vielleicht haben sie in den Steilwänden der Sandsteinfassade eine junge Frau bemerkt, die an der Restaurierung des Baudenkmals mitgearbeitet hat: Saskia Seidl.

Der „Wolkenkratzer“ prägte jenen Topos des Diskurses zur Architekturtheorie, der in den Nachkriegsjahrzehnten zwischen den Antagonismen emphatischer Fortschrittsgläubigkeit und gesellschaftskritischen Positionen zum einen das Symbol für eine moderne, weltoffene Urbanität und zum anderen den Ausdruck der Kapitalinteressen vorzufinden glaubte (Gegenposition: verdichteter Flachbau, R. Rainer). Es sei Überlegungen an anderem Ort überantwortet, inwieweit das städtebauliche Phänomen des Hochhauses in bautechnologischer Hinsicht und in Bezug auf repräsentative Funktionen mit der historischen Verbreitung des Dombaues und der kultur- wie identitätsstiftenden Bedeutung von Kathedralen im urbanen Kontext Parallelen aufweist. Hier wird über die zufällige biographische Brücke hinaus zwischen Dom und Zweckbau ein inhaltlicher Bezug herzustellen sein, der sich an der Arbeit von Saskia Seidl nachvollziehen läßt.

 

Sie bezeichnet in ihrer Korrespondenz die Plastik lapidar als „DIE KUGEL“. Damit findet sie ein für die Herstellung zweckdienliches Sprachkürzel, das im Folgenden auch weiterhin verwendet werden soll, von dem wir jedoch wissen, daß es die ausdiffenrenzierte Gestalt nicht wirklich beschreibt. Denn die Kugelform erscheint nicht in ihrer Idealform, welche nach Platon „von allen Gestalten die vollkommenste und am meisten sich selber gleiche ist“, nein, sie ist durchbrochen. Ein schräg verlaufender, sich verjüngender Schacht, welcher im Querschnitt ein gleichschenkeliges Dreieck zeigt, verbindet die nach Süden zeigende Halbsphäre mit einer Öffnung im Norden, die wie ein mit zwei Stufen versehener und nach oben hin freier Gang zum zentral gelegenen Schachtende führt. Schacht und Gang („DER DURCHBRUCH“) sind in ihrer Neigung exakt berechnet und auf den Sonnenstand ausgerichtet: am 21. Dezember fällt das Sonnenlicht parallel zur Neigung des Durchbruches um 13 Uhr auf das Objekt. Ein Lichtstrahl durchdringt dann die Gestalt und zeichnet im Schatten der Kugel die Form des dreieckigen Schachtes nach.

Die Plastik gewinnt so eine Affinität zu den Astrolabien, wie sie von Stonehenge bis zu James Turrell als Instrumente der Weltschau die irdische Existenz in das himmlische Geschehen einbetten. Am Lauf der Gestirne haben die Baumeister der Sakralbauten ihre Pläne ausgerichtet und der Begriff der Orientierung verweist uns auf die Richtung des Sonnenaufganges. Am 26. Dezember zum Beispiel, dem Tag des Namenspatrons, zeigt die Längsachse von St. Stephan auf den Ort des Sonnenaufgangs. Der 21. Dezember markiert die Zeit der Wintersonnenwende.

„Die Kugel“ ist ein abgeschlossenes Gebilde. Keine Öffnung erschließt das Innere der Plastik. Auch der Schacht führt nicht in die Innenwelt des Objektes, seine Wände gehören zum Terrain der Oberfläche. Form, Verarbeitung und Material gewährleisten die größtmögliche Sicherheit, daß die Integrität des Innenraumes gewahrt bleibt. Sechs Millimeter starker, nichtrostender Stahl umhüllt den Innenraum. Die bei der Herstellung verwendete Schweißtechnik wird in der Apparatetechnik eingesetzt, wenn Bauelemente höchsten Druckbelastungen ausgesetzt sind, wie zum Beispiel bei Kraftwerken. Wie steht der Aufwand an (Hoch)Technologie in Relation zum Inneren des Objektes?

Tatsächlich verbirgt der Stahlmantel einen etwa 20 cm hohen Kristall, einen Amethyst aus Brasilien, der im Inneren befestigt wurde und von Sand aus dem Marmor-Steinbruch bei Carrara umgeben ist. Sand und Kristall befinden sich in absoluter Dunkelheit im Schutz einer Umhüllung, die auf einen unabsehbaren Zeitraum abzielt. Der Lauf der Tages- und Jahreszeiten vermittelt sich dem Inneren durch die Temperaturschwankungen und die Geräuschspektren der Witterung, während das Licht der Sonne von der Oberfläche reflektiert wird.

Saskja Seidls Thematisierung des „Hortus conclusus“, jenes „verschlossenen Gartens“, den die christliche Ikonographie der Muttergottes zuschreibt, verweist mit den Materialien Erz, Gestein und Kristall auf das Erdinnere. Es ist eine Materialzusammenstellung, die mit ihren anorganischen Bezügen die entferntesten Geschehnisse der Kosmogenese tangieren, die Welt vor der Entstehung des Lebens, vor der Erschaffung des ersten Menschen, vor dem Sündenfall …

Und doch trägt dieses Modell die Zeichen eines gestaltenden Zugriffes. Die Platon’sche Idealform hat ihre unschuldige Vollkommenheit verloren, sie hat etwas eingeschrieben bekommen. Wo Schacht und Gang zusammenkommen, klingen Motive aus der Kulturgeschichte an, man mag sich vielleicht an den Zugang zum „Schatzhaus des Atreus“ erinnert fühlen. Auf die zum Zentrum führende Stufen fallen die Strahlen der Sonne: vom 30. April bis zum 16. August erreichen die Sonnenstrahlen die innerste Stufe; danach wandert das Lichtzeichen jeweils in den Mittagsstunden nach außen und hat am 21. Dezember den Radius der Kugel verlassen. Mit diesem Zugriff also weist Saskja Seidl dem einfallenden Licht einen Ort zu. So erreicht sie, daß wir vom Lichtzeichen zum Kanal in der Kugel eine aus Licht bestehende und dennoch unsichtbare (außer Nebel- oder Rauchschwaden bringen sie zum Vorschein) Gerade wahrnehmen wollen, die bis zu ihrem Ausgangspunkt, zur Sonne, weitergedacht werden soll. Saskja Seidls Plastik besteht demnach zum überwiegenden Teil aus Licht. Sie erstreckt sich über durchschnittlich 149.596.000 Kilometer, was der mittleren Entfernung der Erde von der Sonne entspricht.

Angesichts jener im wahrsten Wortsinn „astronomischen“ Dimension verschwindet die Kugel selbst mit ihren zwei Metern im Durchmesser zum Punkt. Die Magie dieses Punktes besteht nun darin, daß er im Takt des Sonnenlaufes pulsiert und täglich eine kurze Zeit in die nächste Dimension, zur Linie hin explodiert, solange ihn das Licht durchdringt. Die Poesie des Bildes nährt sich aus dem mythischen Abenteuer von Licht und Dunkelheit, wie es den antiken Erzählungen von der Erschaffung oder der Befindlichkeit der Welt so oft zugrunde liegt. Es sei hier nur an Passagen aus den Orphischen Fragmenten erinnert, nach denen aus der Verbindung von Nyx (der Nacht) und dem lichtspendenden Phanes (das Erscheinen) die Welt hervorgebracht wird, oder an die (gnostische) Vorstellung der Welt als dunkelstes Verlies der Schöpfung, in das die Menschen geworfen sind, um jenes göttlichen Funkens gewahr zu werden, der im Einzelnen verborgen lebt und sich nach dem göttlichen Licht sehnt.
Johann Berger

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