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Text aus: Johann Berger
Wortkörper
Zur Ausstellung im kunsthaus muerz
22. September bis 29. Oktober 2017
Johann Berger: Der Ausstellungsraum in Mürzzuschlag ist ein ehemaliger Sakralraum. Das konfrontiert mich mit meinem katholischen Herkommen. Ich bin bei der Lektüre der Lacan’schen Schriften immer mehr darauf gekommen, dass er mit seinem Herkommen ähnlich konnotiert sein dürfte. Im „Seminar“ (Das Seminar. Buch 20, 1972-1973) nimmt er zum Teil auf mittelalterliche Scholastik Bezug. Explizit bezieht er sich auf Richard von Sankt-Viktor, der im Universalienstreit als Antagonist zu Abaelard gilt. Wie du weißt, bin ich auf Bonaventura und seine in der Kirchengeschichte sehr breit rezipierte Schmerzensmystik gestoßen. Ich nehme an, dass einiges Unvorteilhaftes aus dieser Rezeptionsgeschichte erwachsen ist.
August Ruhs: Ja, aber gibt es jetzt eine Frage für dich?
JB: Was sagst du denn jetzt dazu?
AR: Naja (lacht).
JB: Du kannst ja z.B. jetzt sagen: „So ein Blödsinn.“ Dann kann ich …
AR: Nein, nein!
JB: … Na, warte ein bisschen! Dann kann ich drauf sagen, ich befinde mich in guter Gesellschaft, die Gefahr des Blödsinns hat niemand Geringeres als Lacan selbst angesprochen – um aber gleichzeitig nicht uneitel anzumerken, dass ihm das Transkript seines Vortrages dann doch ganz gut gefallen hat. Ich hoffe, dass ich das Gleiche sagen kann, wenn wir das Transkript in der Hand haben.
AR: Gut, von Unsinn, Nonsens, glaube ich, kann man bei deinen Arbeiten wenig sprechen. Außer, dass es ja eben gerade durch deine Wortbegleitung Sinn bekommt, nicht? Und daher ist alles sehr durchdacht und sehr bedeutungsvoll. Die Frage wäre nur, von wo du ausgegangen bist. Und was die Sinnlichkeit in dem Fall auch für eine Bedeutung hat in Bezug auf Sinn. Ähnlich wie die Frage nach dem Zusammenhang von Sinn und Sinnlichkeit wäre in gewisser Weise die Frage genauso auf den Zusammenhang von Buchstabe und Körper zu stellen. Und beides hat einen doch sehr innigen Zusammenhang. Die Beziehungen, die ich aus meiner Sicht herstellen kann, zeigen den Buchstaben ja weniger als Körper, sondern mehr den Körper als Buchstabensammlung. Das ist für mich eher der Zugang. Vielleicht komme ich da ein bisschen von der anderen Seite her und sage, das Wesentliche am Körper, den wir haben, ist, dass er ein buchstabierter oder ein Buchstabenkörper ist, in den sich die Umwelt eingeschrieben hat und der uns zu dem macht, was uns von anderen Lebewesen unterscheidet. Nämlich zu einem Körper, wo die Existenz weniger wichtig ist als die Bedeutung. Also das heißt, das Sein tritt oft hinter die Bedeutung zurück, oder: Bei uns gibt es einen ständigen Wechsel von Sein und Bedeutung. Das Sein wäre das Existenzielle und die Bedeutung wäre das, was zum Existenziellen dazukommt und es erst belebt, würde ich sagen, nicht? Sinn und Sinnlichkeit ist in einem ähnlichen Zusammenhang zu sehen. Aus einem unmittelbaren Erleben, also aus etwas Unvermitteltem im Sinne eines Seienden, wird dann erst durch die Bedeutung etwas Sinnhaftes, das Sinnliche wird zum Sinnhaften. Und das spüren wir ja. Das ist für mich zumindest ein wichtiger Topos in der psychoanalytischen Anthropologie, dieser Wechsel von Sein und Bedeutung, der gleichzeitig anticartesianisch ist, weil die Psychoanalyse dem Descartes etwas entgegenstellt, nämlich nicht „dort, wo ich bin, denke ich“, sondern „dort, wo ich bin, denke ich nicht und dort, wo ich denke, bin ich nicht“. Trotz des cartesianischen Ansatzes in der Freud’schen Psychoanalyse als moderne Wissenschaft ist für mich da ein großer Sprung. Die Psychoanalyse zeigt uns, dass es ein Oszillieren zwischen Sein und Bedeutung gibt und nicht beides gleichzeitig. In der analytischen Situation zeigt sich, wenn ich spreche, dann kann ich gewissermaßen nicht denken. Und wenn ich denke, kann ich eigentlich nicht sprechen. Und wenn ich genieße, kann ich auch nicht sprechen und wenn ich spreche, genieße ich nicht. Das ist der Weg, das ist die symbolische Kastration.
JB: Ich erinnere mich, bei unserem letzten Gespräch habe ich dir diesen kleinen Wortkörper in die Hand gegeben, um dir diesen sinnlichen Aspekt nahezubringen. Nämlich den Aspekt, mit Hilfe einer taktilen Wahrnehmung zu erfassen, was den Begriff ausmacht. Den Begriff zu begreifen. Du hast ihn dann mit der Bemerkung aus der Hand gelegt: „Da kann ich jetzt nicht reden dabei.“
AR: Ja, ungefähr dürfte es darauf hinauslaufen. Wenn ich mich an die Sprache anbinde, damit auch an die Schrift, dann trete ich in eine Vermittlung ein. Und in dieser Vermittlung wird das ursprüngliche, unvermittelte Genießen eingeschränkt, herabgemildert auf eine Lust, die nun nicht mehr dieses volle Sein ist, sondern ein beschnittenes Sein. Es kommt etwas dazu und gleichzeitig fällt etwas weg. Was wegfällt, ist das, was man als Objekt „a“ bezeichnet. Also das, was das Ding war, bevor ich es benennen konnte. Das fällt durch die Benennung weg und bildet so etwas wie das Urverdrängte, das Urunbewusste. Und damit werde ich ein Lebewesen, das eben dadurch bestimmt ist, das – wenn man sich jetzt auf den Körper bezieht – nicht nur ein Körperschema hat, sondern auch ein Körperbild. Das Körperschema ist ja das, was allen Menschen mehr oder weniger (soweit sie nicht eine abnorme Entwicklung embryonaler Natur mitgemacht haben) gleich ist. Alles ist geprägt, diese Muskelgruppe ist für dieses bestimmt und diese Strukturen sind für jenes verantwortlich. Und das macht den anatomischen Atlas aus. Und demgegenüber gibt es jetzt den hysterischen Atlas, wie man das nennt, das ist gewissermaßen das Körperbild. Da, wo die Welt sich in den Körper eingeschrieben hat und ihm zum existenziellen Körper des Körperschemas einen symbolischen Körper zusätzlich hinzusetzt, der dann eben ein Buchstabenkörper wird, wo sich auch das individuelle Leben abbildet und vom ganz allgemeinen Prinzip des Schemas abweicht und in eine Instanz eintritt. Dieser Buchstabenkörper oder buchstabierte Körper ist dann der, der letzten Endes jedem einzelnen Subjekt seine Eigenheit, seine Eigenwilligkeit gibt. Und der ist eigentlich wesentlicher als der ursprüngliche Körper des Körperschemas mit den eingeschriebenen und mehr oder weniger stabilen Funktionen. Da wird dann der Homunkulus ein ganz anderer, der sich da abbildet, als der, der ursprünglich einem von der Funktionsweise her mitgegeben ist.
Was heißt das jetzt aber für deine Arbeiten? Ich glaube, man kann es auch umgekehrt machen, indem man dem Symbolischen Körperlichkeit verleiht, was du ja hauptsächlich machst. Ich beschäftige mich mit den Wirkungen der Sprache auf den Körper und du versuchst, auch dem Abstrakten Körperlichkeit zu verleihen, sodass sich das Ganze in einer gewissen Weise irgendwo von verschiedenen Eingängen her trifft und dann zu einem gemeinsamen Objekt kommt, wo das Abstrakte in der Körperlichkeit und das Körperliche in der Abstraktheit jeweils aufgehoben erscheint.
JB: Es hat etwas mit Literalität zu tun. Also mit dem kundigen Verständnis und Gebrauch von Buchstaben, von Zeichen, die im literalen Prozess einer Rezeptionskunst erschlossen sind, die für uns selbstverständlich ist, solange die Buchstaben in der gewohnten Reihenfolge auf gewohnten Flächen auftauchen. Dieser Literalität entziehe ich die Zeichen, indem ich sie nicht nebeneinander, sondern hintereinander stelle und ihnen statt dieser Lesetauglichkeit einen taktilen Zugang eröffne. Das ist einmal von der Rezeption her unterschiedlich. Die Buchstaben und der Buchstabenbegriff in deiner Metaphorik und in meinem eher direkten Zugriff sind auch noch zu differenzieren. Du sprichst von der in den Körper eingeschriebenen Geschichte, die bio-graphisch vom Leben gleichsam „eingeritzt“ wird – von der mütterlichen Berührung bis hin zu dem, was wir anhaben, und dem, was wir riechen und hören …
AR: … und was wir neuerdings in unseren Körper mit Vehemenz eingravieren, im Sinne der Tätowierungen usw.
JB: … also alles das ist auch, wenn man so will, lesbar oder erzählbar. Nur: Der Begriff des Buchstabens in deiner Metaphorik unterscheidet sich schon grundsätzlich von dem, was wir uns als Buchstaben in der Alphabetisierung angeeignet haben. Wohl ist der metaphorische Buchstabe in seiner Körpereinschrift beschreibbar. Und zwar durchaus naturwissenschaftlich beschreibbar als endokriner und neurologischer Prozessablauf, der wahrscheinlich, korrigiere mich bitte, wahrscheinlich relativ detailliert etwas repräsentiert, was im Erleben Tangenten in die jeweils eigene Biographie hat. Wenn ich diese naturwissenschaftliche Beschreibung dessen, was als Buchstabe in deinem Diskurs auftaucht, hernehme, werde ich aus der Beschreibung allerdings relativ wenig erfahren über das, wie dieser Lacan’sche oder diskursive oder psychoanalytische Buchstabenbegriff erlebt wird oder erlebbar ist.
AR: Da könnte ich jetzt sagen, um bei der Buchstäblichkeit zu bleiben, gibt es ja auch eine Prägung in dem doppelten Sinn. Uns fehlt die Prägung erster Ordnung als Menschen gegenüber den Tieren, die auch diese Prägung erster Ordnung im Sinne eines Instinktes haben. Die zweite Prägung, die uns dann mehr oder weniger lebensfähig macht, auch überlebensfähig, ist ja dann gewissermaßen die Prägung zweiter Ordnung, nämlich die Prägung durch die Sprache und durch Buchstaben im weitesten Sinne des Wortes, im Sinne einer Bedeutungsgebung. Das brauchen wir Menschen, weil wir Mängelwesen sind. Gegenüber den meisten Tieren ist unsere intrauterine Vorlebenszeit verkürzt. Wir kommen unfertig auf die Welt, sind relativ instinktlos, manche sind doppelt instinktlos, aber alle sind mehr oder weniger mit einem Mangel an Instinkten behaftet. Und dann muss die Kultur – und damit auch mehr oder weniger die Sprache, wenn man das mit Kultur gleichsetzt – eintreten. Und aus dem ursprünglichen Mangel wird dann plötzlich ein Überschuss an Fähigkeiten und Möglichkeiten und Freiheitsgraden, die wir durch diese Kulturbildungen kriegen. Also die Prägung ist, glaube ich, ein sehr wesentlicher Begriff, den man in dem Zusammenhang einführen kann: Einerseits erlegt uns die Natur ihre Prägung auf, das wäre das Körperschema. Und dann kommt eine zweite Prägung darüber und das ist die durch Sprache und Schrift. Und ich glaube, das kommt in dem, was du machst, auch in der ganzen dialektischen Verwobenheit ganz gut zum Ausdruck. Das ist mir jetzt nur eingefallen, weil durch die Literalität und den Buchstaben, der mit „Letter“ verbunden ist, und das Verfahren der Prägung Natur und Geist über den Begriff miteinander verbunden sind.
JB: „typos“ im Sinn von Einprägung und „graphein“ in Zusammenhang mit Einritzung ergeben miteinander die „Typo-graphie“, mit der ich zu tun habe und die der Ausgangspunkt meiner Versuche ist, etwas zu machen, was, soweit ich weiß, vor mir noch niemand gemacht hat. Und dem dann eine gleichsam naturwüchsige Form zu verleihen, denn die Körperlichkeit entsteht ja aus den vorgegebenen Formen, die eine kulturhistorische Entwicklung durchlaufen haben. Dieser Geschichte liegt aber ein Piktogramm zugrunde. Jedem unserer Buchstaben des Alphabets entspricht im protosemitischen Alphabet ein Piktogramm aus dem Umfeld einer Agrarkultur, eines bäuerlichen Daseins. Da hast du das Haus, das Rindvieh, den Zahn, den „Ochsenzeam“ (=Ochsenziemer), aber auch als letzten Buchstaben das Zeichen, das wie ein tautologisches Schlusselement am Ende des Alphabets steht, das „Taw“, jenes Zeichen, das ursprünglich als Kreuz geschrieben worden ist. Vor diesem Hintergrund stellt sich mir die Frage, wie konnte es sein, dass die Bildlichkeit in diesen Schriftzeichen, die dem Regime der Zunge als der Sprache empfohlen sind, wie konnte es sein, dass diese Bildlichkeit verschwunden ist? Verschwunden ist sie spätestens, als diese protosemitische bzw. dann phönizische Schriftkultur in Griechenland gelandet ist und zu neuen Zeichen verändert worden ist. Diesen damals neuen Zeichen, und unsere heutigen sind noch sehr verwandt damit, sieht man ihr Herkommen als Piktogramm nicht mehr an. Oder nur sehr, sehr indirekt. Den hebräischen Buchstaben sieht man es schon gar nicht an, aber da sind die Buchstabenbezeichnungen noch mit den ihnen zugrunde liegenden Piktogrammen verbunden.
AR: Könnte man nicht jetzt doch sagen: teilweise Piktogramm, teilweise von Anfang an Ur-Alphabet im Sinne einer Kerbung, die eigentlich nur das Quantitative anzeigt und nicht etwas Qualitatives? So wie zwischen zählen und erzählen? Gibt es nicht die Überlegung, dass die Schrift, also die erste Schrift die Einkerbung war, wie viele Tiere man erlegt hat, ohne dass man jetzt Tiere abgebildet hätte?
JB: Ja, es gibt diese berühmte Venus von Laussel, die einen halben Halbmond in der Hand trägt. Dieser Halbmond hat Einkerbungen, die als Kalendarium interpretiert werden. Natürlich, es hat auch etwas mit der Zählung der Zeit zu tun, auch mit der Zählung der Wirtschaftsgüter, die für das Leben wichtig waren. Und die ältesten Fundstücke werden tatsächlich als Calculi bezeichnet, als Zählsteine. Aber die späteren Piktogramme von Wirtschaftsgütern sind dann nicht nur Zahlzeichen gewesen, sondern auch Überträger phonetischer Inhalte, nämlich der Anfangsphoneme. Und so sind die Schriftzeichen in ihrer Genese eng verbunden mit ihrer Funktion als Zählzeichen auf der einen Seite, also mit der Quantifizierung, und auf der anderen Seite sind sie Träger von Phonemen. Das sind die zwei Ausgangsfunktionen, die sich in den Schriftkulturen der griechischen und der hebräischen Antike zeigen, wenn den einzelnen Buchstaben auch Zahlenwerte zugemessen waren – und im Hebräischen noch immer sind.
AR: Das Gemeinsame ist die Differenz. Die Differenz als logische Figur, die gewissermaßen als digitale Null-Eins-Zählung allem doch irgendwie auch vorangeht.
JB: Also du meinst die Differenz von Signifikant und Signifikat?
AR: Nein, auch von Zuständen. Die Differenz Schrift-Sprache, das gehört zusammen und das beruht darauf, dass es zweier Ereignisse bedarf, um ein Ereignis überhaupt erst zu erfassen. Aber das führt uns jetzt ziemlich weit. Ein Buchstabe kann ja nur dann verwendet werden, wenn er etwas anderes bedeutet als ein anderer Buschstabe. Der muss sich vom anderen unterscheiden, sodass man ihn nicht verwechselt. Und ein Phonem ist nur dann sinnvoll, wenn es sich auch von einem anderen unterscheidet, weil sonst fällt das ganze Bedeutungssystem zusammen. Es muss die Nacht geben, damit ich erst den Tag erfasse. Wenn es immer nur Tag gibt, würde ich den Tag als solchen gar nicht erfassen. Es muss eine Differenz eintreten, um auch die Abwesenheit von etwas erkennen zu können. Da habe ich so ein bisschen den Eindruck, dass auch dieses Null-Eins, diese Ursprünglichkeit von Abwesenheit-Anwesenheit, dass das auch eine Art von Urschrift bedeutet, sobald ich es als Differenz markiere: „Wie viele Tiere hast du erlegt?“ und „Was hast du heute erlegt?“ Das sind zwei Sachen, die zwar irgendwie zusammengehören, die aber doch eher getrennte Ursprünge haben. Phylogenetisch weiß ich nichts, ontogenetisch könnte man sagen, weiß man vielleicht ein bisschen mehr, wie Kinder anfangen, wie bei ihnen die Mentalisierung vor sich geht. Freud meint, das Phylogenetische habe sich so abgespielt, wie es sich in der Ontogenese des einzelnen Subjektes wiederholt. Und dann stellt sich eben die alte Frage: Womit fängt menschliches Leben an? Und zwar derart, dass es wirklich ein humanes ist, wo also der Mensch, der ursprünglich viel weniger logisch begabt ist als der Schimpanse, den Schimpansen hinter sich lässt und ab jetzt „mehr“ ist als der Schimpanse. Der Schimpanse kann Werkzeuge verwenden und sogar selber herstellen, was der Säugling oder der kleine Mensch nicht kann. Aber dann kommt der große Sprung – das ist, wie ich meine, die Anbindung an die Sprache und das Erfassen von Zeichen. Diese Zeichen sind nicht unbedingt Abbildungen, es sind Zeichen, die an und für sich selber nichts bedeuten, sondern nur durch den Kontext eine Bedeutung kriegen, indem sie sich von anderen unterscheiden.
JB: Was somit ein schönes Schlusswort war!
AR: Na gut, es ist noch nicht alles gesagt (lacht).
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