Galerie Gut Gasteil

Ausstellungseröffnung

Arbeiten von Anna Maria Brandstätter und Harald Kutschera

Johann Berger, 2010

 

So nah – so fremd, das ist das Thema einer Reihe von Ausstellungen, die Charlotte und Johannes Seidl hier in Gasteil präsentieren. Es sind jeweils unterschiedliche künstlerische Positionen, deren Nähe oder Fremde anregende Begegnungen mit der Kunst eröffnen. Heute also sind wir zu dem Abenteuer einer Begegnung mit Anna Maria Brandstätter und Harald Kutschera eingeladen. Ihre Biographien gemahnen an die Zeitläufte, wie sie üblicherweise die Generationen mit ihren so unterschiedlichen Lebenswelten einander fremd erscheinen lassen mögen. Und – fast hätte ich gesagt „natürlich“ – legt die Geschlechterdifferenz ein weiteres Licht auf den Aspekt einer potenziellen Fremde.

„So nah“ kommen einander in dieser Ausstellung jene Arbeiten aus so verschiedenem Herkommen. Was für eine Nähe ist das? Eine zufällige, wie das Zusammentreffen einer Nähmaschine und eines Regenschirmes auf einem Seziertisch? Sehr geehrte Damen und Herren, dieses Zitat aus den Gesängen des Maldoror, einer schrecklichen Gestalt aus der Literaturgeschichte, wird Ihnen vielleicht in surrealistischem Umfeld gelegentlich begegnet sein. Doch hier hat nicht sein Autor Isidore Lucien Ducasse die Regie geführt, vielmehr waren es die Seidls, und so erleben wir eine Begegnung in heiterem Licht. Und doch lassen die dichten Schraffuren der Anna Maria Brandstätter die Ahnung einer beschatteten Nähe aufkommen.

„Ich fühle mich lebendig, wenn die schwarze Luft hereinbricht“, schreibt sie, (wenn) „die Nacht alles in samtige Dunkelheit hüllt, alles verändert, eine dezente und reduzierte Farbigkeit wahrnehmbar ist, Umrisse eine neue Formensprache entwickeln und alles still steht.“

In dieser Stille, in dieser Einsamkeit entfaltet sich das Geschehen, ohne den schielenden Blick auf die Konjunkturen diskursiver Moden. „Wenn ich den Ursprung suche, sich Malerei und Druckgrafik gegenseitig aufpeitschen und die Farbe den Bildern entweicht, bis sich auf der Leinwand nur mehr Schwarz befindet und das Schwarz auf die Druckgrafik zurückgeworfen wird.

Im Atelier, im Halbdunkel. Mit den Händen Farbe und Eisenchlorid auf Leinwand und Aluminium verwischen, schieben, formen, verdichten.“

So kommen uns die Arbeiten wie dicht gewobene, choreographische Partituren entgegen, auf denen die Spuren dieses Körpereinsatzes nachlesbar, nachempfindbar, spürbar vor unseren Augen liegen. Die Schraffuren erzählen von Exerzitien, von den disziplinierten Etüden der zeichnenden Hand, die aber noch des vermittelnden Werkzeuges bedarf. Der Gestus der Malerei kommt dann ohne den distanzierenden Gebrauch eines Werkzeuges aus. Hier ist die Nähe zum Material noch radikaler. Und in der Druckgraphik entwickelt die Künstlerin ihre individuelle Technik der Direktätzung, um sich dieser körperlichen Nähe sogar im Ätzbad, in die Tiefen des Metalls hinein, gewiss sein zu können.

So erscheint uns die Arbeit Brandstätters als Antithese zum Cartesianischen Subjekt, das zurückgeworfen auf den Gedanken seiner Selbst dasteht. Vielmehr erscheint uns dieses künstlerische Projekt wie eine Antwort auf den Ruf eines beinahe vergessenen Denkers:

„Bringt aus Euch heraus, was in Euch steckt“, so Max Stirner, „bringt’s zu Tage, bringt Euch zur Offenbarung.“

Das sind wohl große Worte, die den Rahmen einer Eröffnungsrede zumindest strapazieren, weil sie sich einer angemessenen Betrachtung an diesem Ort entziehen. Auch dem, was Harald Kutschera als „funktionelle Logik“ bezeichnet, werden sie kaum erschließbar sein. Und dennoch mögen wir einer, die beiden Künstlerpersönlichkeiten verbindenden Nähe gewahr werden, wenn wir den Worten Harald Kutscheras Raum geben. Intensiv setzt sich der gelernte Kunsthistoriker und promovierte Publizist Kutschera mit der Kunst des Zwanzigsten Jahrhunderts auseinander. Sie sei, diagnostiziert er, „durch einen Bewußtseinswandel geprägt, der völlig im Zeichen des individuellen Schöpfertums steht. Jede Schöpfung, die sich nicht anlehnt, ist quasi eine Schöpfung aus dem Nichts.“

Damit, nämlich mit dem radikalen Begriff des Individuums und mit dem Verweis auf eine Creatio ex nihilo, die sich den Scheinwerfern eines funktionellen Alltagslebens entzieht, damit also erinnert uns auch Kutschera an Stirner. Den Prolog seines zentralen Werkes „Der Einzige und sein Eigentum“ eröffnet Stirner bekanntlich mit dem Goethe-Diktum „Ich hab’ Mein Sach’ auf Nichts gestellt“.

Das allerdings wäre eine Behauptung, die der in beiden Regimen, jenem des Auges und in jenem der Sprache, beheimatete und reich begabte Künstler, wohl kaum glaubwürdig aufwerfen wollte. Zu vielfältig sind die Repertoires, die ihm verfügbar sind, wenn er in Theorie und Malerei die Terrains der Kunst erschließt. Zu hoch sind die Schultern, auf denen stehend er auf die Moderne blickt und seine Sicht beredt in Worte fasst. Nur nicht im Titel. Seine Arbeiten nehmen uns, die Betrachterinnen und Betrachter in die Pflicht, Kutschera verweigert den kurzen Text zum Bild, jene Adresse, an der wir das Blickerlebnis abzuholen gewohnt sind. Recht geschieht uns, denn wir sehen nur, was wir wissen, deshalb sollen wir unvoreingenommen schauen und uns so seiner Kunst annähern. Recht hat er, denn zu gut weiß er um den raschen, kategorisierenden Blick Bescheid. Sobald eine kleine Neigung des Kopfes genügt, vom Preisschild mit dem Titel zur visuellen Entsprechung im Bild – und das kann schnell gehen – wird das Kunstwerk abgehakt und in die Archive des Vergessens übergeführt. Dieser Gefahr gilt es zu begegnen. Kutschera erwartet und fordert von uns einen schöpferischen Blick. Denn das Kunstwerk, nein die sichtbare Welt insgesamt, entsteht, wollen wir den konstruktivistischen Befunden nach der „Decade of the Brain“ folgen, im Kopf der Betrachterin, des Betrachters. „Deshalb“, so stellt Kutschera fest, „verlangt die Kunst unseres Jahrhunderts Offenheit, Vielschichtigkeit und Sensibilität wie nie zuvor.“

Wo es an diesen Arbeitstugenden der Kunstbegegnung mangelt, entsteht der Raum für Ignoranz und Skandale. 1923, im Geburtsjahr Harald Kutscheras, hat die erste Ausstellung des Bauhauses in Weimar stattgefunden. Und Leipzig erlebte einen Skandal um das Theaterstück „Baal“ des Bertolt Brecht, während Rilke an seinen Duineser Elegien arbeitete. Sie verzeihen mir diese etwas angestrengte rhetorische Figur, wenn ich nun die vier historischen Daten verknüpfe: Das große Projekt einer Ästhetisierung des Alltages, das Wüten kleingeistiger Ignoranz und das Wissen um die Schönheit als „des Schrecklichen Anfang“, das sind die Paten an der Wiege des Künstlers und sie begleiten ihn und uns durch die Jahrzehnte. Zugegeben, sie haben ihre Gestalt verändert. Das Formenrepertoire aus Weimar und später Dessau mag heute – entgegen den ursprünglichen Intentionen – ein elitäres Klientel bedienen. Der Skandal ist zum Marketinginstrument verkommen. Nur das Diktum Rilkes, „Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang“, hat das Jahrhundert seines Entstehens unbeschadet überstanden. In ungebrochener Frische warnt es uns davor, das Schöne mit dem Hübschen zu verwechseln, die Daseinsdimension mit der Dekoration.

Brandstätter und Kutschera leben diese Dimension des Daseins. Ihre Arbeiten laden uns ein auf diesen heilsamen Schrecken des Schönen. Kommen wir dieser Einladung nach!

Ich wünsche Ihnen dabei inspirierende Begegnungen.

 
 
 
Johann Berger

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