Galerie Subal, Wien

Ausstellungseröffnung Gilles-Henri Polge

Zur Ausstellung von Gilles-Henri Polge

Johann Berger, 2007

 

Sehr geehrte Damen und Herren, verehrter Gilles!

Es mag ja manchem als Zeichen des Sittenverfalls erscheinen, dass das alte Ritual der Ausstellungseröffnung gleichsam zerbröselt. Erst nach dem Wortgetöse war es üblich, das Buffet zu eröffnen und das Publikum dem Geschmack an der Kunst und am Wein in einem Simultangenuss anzuempfehlen. Wie ich zu meiner Freude wahrnehmen darf, habe ich mit meiner Wortproduktion jetzt nicht als Hindernis zwischen ihnen und der Kunst bzw. dem Buffet zu stehen. Nun ist mir vom Hausherrn die ehrenhafte Aufgabe zugekommen, Ihnen einige Wortkonstrukte als Brücke zu den Arbeiten von Gilles-Henri Polge anzubieten. Also habe ich mich zu bemühen, angesichts der so bemerkenswerten Arbeiten des Künstlers einerseits Ihren Simultangenuss nicht allzu sehr zu trüben und auf der anderen Seite nicht allzu tief unter das mit der Kunst vorgegebene Qualitätsniveau abzustürzen.

Möge die Übung gelingen!

Ein Wunsch, wie er die Akrobaten und ihre begnadeten Körper begleitet, wenn sie mit scheinbarer Leichtigkeit unser Staunen provozieren. Ein Wunsch, der in der Zunft der Turmspringer oder in jener der Tanzkünstler wohl in anderen Worten, jedoch im gleichen Sinn ausgedrückt wird.

Doch dazu ein paar Atemzüge später.

Folgen Sie mir bitte zuerst in das Geäst eines Werksegmentes, das Gilles-Henri Polge als Écritures, als „Handschriften“ bezeichnet.

Natürlich sind die vermeintlichen Kalligraphien dieser Werkgruppe keine Zeichen aus der Hand eines Schriftkünstlers, sondern Fotografien von Bäumen. Doch der Titel „Écritures“ eröffnet uns ein fruchtbares Terrain für weitere Überlegungen. Die Frage nach der Hand, die hier geschrieben hat, drängt sich auf. Die Frage nach der Bedeutung der Zeichen wäre anzuschließen und nicht zuletzt mündete das alles in einem reizvollen Spiel, in dem die Differenz zwischen dem bezeichnenden Signifikanten und dem Bezeichneten, dem Signifikat als Echo der Kulturgeschichte anklingt. Denn wer in den Phänomenen der Natur – sei es im Geäst oder in den Steinen, sei es im trainierten menschlichen Körper – einer Zeichenhaftigkeit nachspüren möchte, setzt sich dem Verdacht aus, er könnte gleich den Auguren der Antike dem Göttlichen auf der Spur sein wollen. Doch vergessen wir nicht: das Buch der Natur erlaubt verschiedene Lesarten, auch wenn diejenige der aufgeklärten Vernunft die wohl machtvollste Grundlage für das wissenschaftliche Denken darstellt. Diderots Enzyklopädie kommt uns so als Projekt der Grenzüberschreitung entgegen. Das Buch der Welt aus der Kalligraphie des Demiurgen wird zur Welt im Buch aus der Hand der Typographen und die verwendeten Schriftschnitte finden ihre Vorbilder in der Königlichen Druckerei und einer Schrift namens „Romain du Roi“. Die Welt ist Text geworden, ihr Platz liegt in der Gutenberggalaxie.

Während die Auguren der zeitgenössischen Medientheorie diese Galaxie in Auflösung wähnen, weil die Neuen Technologien den Binärcode an die Stelle des Alphabets gestellt haben und die Welt nun der Simulation im Rechner zugeführt worden ist – während all das die Diskurse der zeitgenössischen Weltnahme beflügelt, erinnert uns Gilles-Henri Polge mit seinen Écritures an die Ursprünge. Mehr noch: Während die Welt der Simulakren als wirkmächtiges Dasein die Realität der Welt zu beherrschen anhebt – wie es uns Baudrillard lehrte –, arbeitet Gilles-Henri Polge mit analogem Material, als wollte er dem Sog des Digitalen (wie das Gestein in seinen Bildern den Erosionskräften) trotzen. Seine Reduktion auf Schwarzweiß und die Ausarbeitung auf Barytpapier bringt uns einen Künstler nahe, der fest in der Tradition einer Kunst verwurzelt ist, die mit dem Begriff der Moderne unmittelbar verbunden ist. Einen Künstler, der sich dem Derrida’schen Diktum stellt, wonach es kein Außerhalb des Textes gäbe. Und er treibt im Geäst der Bäume sein kunstvolles Signifikantenspiel, wenn er zwischen dem Zeichen und seiner Bedeutung turnt und uns augenzwinkernd auf die formalen Kompositionen seiner Triptychen verweist, als ob der Text in der Textur des Geästes seinen Meister gefunden hätte.

Und doch entgleitet dieser Künstler unserer Aufmerksamkeit, wenn wir uns dem Staunen angesichts der disziplinierten Körper ausliefern. Deshalb darf ich Sie auf jene Augenblicke hinweisen, in denen eine Bewegung kulminiert, in denen die Bahn eines geworfenen Körpers den Moment der größtmöglichen Spannung erreicht. Auf jenen Sekundenbruchteil, welcher in der Dynamik des Geworfen-Seins einen Hauch von Ewigkeit erahnbar macht.

Als ob sich der Zeitpunkt ins Unendliche ausstülpte, wird die Verschlusszeit zum Augenblick, die Inszenierung implodiert in den Moment, der ballistische Raum in die Fläche, das Spektrum der Farben in das Hell-Dunkel.

Ein Akrobat fliegt durch den Raum. Der Springer dreht seine Figuren in die Flugbahn. Wie lange dauern diese Bewegungen? Wie verlaufen sie? Vielleicht dauern sie so lange, wie es braucht, diesen Satz zu sprechen. Im richtigen Moment drückt Polge auf den Auslöser und aus der Bewegung ist Stillstand geworden. Dazu gibt es keine Entsprechung. Der gesprochene Satz braucht seine Zeit. Wollte ich die Zeit an welchem Punkt des phonetischen Ereignisses auch immer wie mit dem Verschluss der Kamera anhalten – aus der Sprache wäre Schweigen geworden. Die Fotografie verhält sich zur Bewegung wie das Schweigen zum Wortgetöse. Unsere Aufmerksamkeit gilt einem Akrobaten des Schweigens.

Diesem Schweigen und dem Genuss der Augenblicke in der Begegung mit der Poesie in den Bildern von Gilles-Henri Polge darf ich Sie nun überantworten – auch wenn noch vieles zu sagen wäre – und wünsche Ihnen einen inspirierenden Abend.

Johann Berger

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