Foto aus Video
Text aus:
Johann Berger
Wortkörper
Zur Ausstellung im kunsthaus muerz
22. September bis 29. Oktober 2017
‚Martina Pippal ist Kunsthistorikerin, Autorin und bildende Künstlerin. Studium der Kunstgeschichte, klassischen Archäologie, Geschichte und Theologie an der Universität Wien (1975–1981). 1978 bis 1991 Assistentin von Hermann Fillitz am Institut für Kunstgeschichte der Universität Wien. 1991 Habilitation. Außerordentliche Professorin mit Schwerpunkten bei der Kunst des Früh- und Hochmittelalters sowie der modernen und zeitgenössischen Kunst am Institut für Kunstgeschichte der Universität Wien. Lehr- und Vortragstätigkeit im europ. Ausland, in Israel, China und in den USA.
Martina Pippal: Wenn wir uns jetzt, ein paar Wochen vor der Eröffnung, deinen Plan für die Ausstellung in Mürzzuschlag ansehen, so erstaunt mich gleich einmal das Entree. Es gibt hier einen Pronaos, eine Art Vorhalle, der durch eine Wand entsteht, die knapp hinter dem Eingang aufgerichtet ist. Den Boden dieser Vorhalle bedeckt ein begehbares Werk, das mich an die Kosmatenmosaiken in den hochmittelalterlichen italienischen Kirchen erinnert; die Familie der Kosmaten hat ja das antike Marmormaterial in kleine Teile zerschnitten, und zwar in einer ganz raffinierten Art und Weise, wodurch sich geometrische Formen ergeben haben, die eine ähnliche, aber nicht so starke Dynamik entwickeln wie deine Fußbodengestaltung. Jetzt kommt gleich einmal die Frage meinerseits: Aus welchem Material wird dein begehbares Werk, über das man die Ausstellung betreten wird, sein?
Johann Berger: Meine Kooperationspartner in Judenburg, die Fachleute von 1adruck, werden das Mosaikmotiv auf Folie drucken und hinter ein begehbares Fußbodenlaminat montieren.
MP: Die Affinität zu den Kosmatenarbeiten finde ich deshalb interessant, weil im zwölften und frühen dreizehnten Jahrhundert antikes Restmaterial von zerbrochenen Säulen, Wandvertäfelungen aus Marmor u.s.w. in kleine Teile zerlegt worden ist, um es zu etwas Neuem zusammenzusetzen. Auf einer Metaebene bildet das eine Parallele zu dem, was du – ganz generell – tust: nämlich Bits and Bites aus der antiken Philosophie, aus der hebräischen Bibel u.s.f. zu nehmen und diese in einen neuen Zusammenhang zu stellen. Du konzentrierst dich auf einzelne Begriffe, die zum Teil eine lange Karriere in der abendländischen Kultur hinter sich haben: von der Ursprungszeit der griechischen Philosophie, oder der Nennung im Tanach, bis heute. Sie stellst du ins Zentrum deiner Arbeit. Oder umgekehrt: machst sie durch deine Arbeit optisch wahrnehmbar. Etwas, was begrifflich ist, was a priori nicht visuell perzipierbar ist, wird durch deine Arbeiten sichtbar.
JB: Nicht nur sichtbar. Es wird im wahrsten Sinne des Wortes begreifbar.
MP: Und es wird begreifbar, richtig. Also insofern: wirklich Wortkörper. Die Frage, die sich dann natürlich gleich aufdrängt ist: Darf man in der Ausstellung irgendetwas angreifen?
JB: Das möchte ich schon haben, dass Menschen einzelne Objekte berühren dürfen. Erst aus diesem taktilen Erleben heraus ist das Wesen des Wortkörpers erfahrbar, wenn sich die Schriftzeichen dem skopischen Treiben entziehen und dem Zugriff zugeführt werden. Dieses Erlebnisspektrum soll sich in dieser Ausstellung eröffnen.
MP: Dieses Bedürfnis, unmittelbar danach zu greifen, es zu spüren, es zu fühlen, entsteht, weil durch den spezifischen Prozess der Umsetzung ins Visuelle ja Objekte entstehen, die ansprechende, organisch wirkende Formen haben. Die Rundungen, Falten, Brüche, aber vor allem die weichen, fließenden und damit erotischen Oberflächen möchte man gerne berühren.
Aber ich glaube, bevor wir auf die einzelnen Werke eingehen, sollten wir noch im Entreebereich bleiben, bei diesem „Kosmatenfußboden“, der gleichzeitig auch etwas Opart-Ähnliches hat. Er zieht uns nämlich gewissermaßen in die Tiefe. Und darauf – oder vielleicht sollten wir besser sagen: darüber – steht ein Objekt, das zwei Buchstabenreihen zeigt, und zwar das griechische, von links nach rechts verlaufende Alphabet und das hebräische, von rechts nach links verlaufende. Diese beiden Alphabete sind Teil des Objektes: Sie ziehen sich über ein Zweibuchstabenwort hin, das auf Hebräisch „Schwelle“ bedeutet.
JB: Ich verdanke dem Dompfarrer Faber den Hinweis, dass Sakralräume durch bischöfliche Autorität als Sakralraum initiiert werden. Die Eingangsschwelle wird vom Bischof mit den beiden Alphabeten beschrieben. Das gehört zu den rituellen Ereignissen, die einen Sakralraum seinem Zweck zuführen. Nun maße ich mir die Position eines Bischofs durchaus nicht an. Aber weil die Ausstellung in einem ehemaligen Sakralraum stattfindet und im Grundriss des Ausstellungsraumes nach wie vor die Kirche erkennbar wird, geht es mir schon darum, in Korrespondenz mit der Geschichte dieses Hauses zu treten – und auf seine Ursprünge zu achten und die Wortkörper, die ich hier ausstellen darf, auch in einen Dialog mit diesem Grundriss zu bringen. Dieser Dialog beginnt mit dem Eintritt in diesen Raum. Und er entfaltet sich in einer Sphäre, in der Erzähltraditionen aus dem alten Griechenland und aus der hebräischen Kultur mit aktuellen Mitteln – du hast das zuerst angesprochen – aufgenommen werden. Dazu bediene ich mich zeitgenössischer Techniken der Konstruktion und der Ausführung. Es kommen beispielsweise computergesteuerte Fräsmaschinen zum Einsatz und Lasertechnologie. Dieser Brückenschlag zwischen den Ursprüngen unserer Geistesgeschichte und den zeitgenössischen, technischen Möglichkeiten auf der Höhe unserer Zeit, das ist mir ein spannendes Abenteuer und Anliegen bei der Verwirklichung dieser Objekte.
MP: Der Sakralraum, der jetzt als Ausstellungshalle dient und deine Ausstellung beherbergen wird, ist, um diesen kurz zu definieren, ein langgestreckter Saal, an den ein eingezogener, also schmälerer, ebenfalls langgestreckter Chor mit Dreiachtelschluss anschließt. – Welche Baugeschichte hat diese Architektur? Wie ist sie historisch verankert?
JB: Es ist ein Barockbau, der mich bei näherer Betrachtung deshalb überrascht hat, weil ich davon ausgegangen bin, dass Sakralräume eine Orientierung haben, die, grob gesagt, ost-west-gelagert ist. Diese Kirche ist fast ganz exakt in einer Nord-Süd-Orientierung gebaut. Die Erklärung, die ich dafür habe, geht in die Richtung, dass man für diesen Raum bestehende Bausubstanz verwenden wollte. Eine in dieser fast exakten Nord-Süd-Orientierung vorgefundene Stadtmauer ist heute noch Bestandteil der Ostwand dieses Baus. Damit zeigt er eben eine Orientierung, die nicht auf den Sonnenaufgang am Tag eines Namenspatrons hin ausgerichtet ist, sondern eine Orientierung, die an den baulichen Gegebenheiten, die vorgefunden worden sind, ausgerichtet ist. Charmant finde ich, dass die Ausstellungseröffnung am 22. September, am Tag der Tag-und-Nacht-Gleiche stattfindet, in der uns dieses Datum wie ein Echo jener kosmischen Einbindung von Sakralbauten begleitet. Deshalb gibt es im Zentrum meiner Ausstellung auch ein Objekt, das den Begriff Kosmos zeigt. Dieser Begriff nimmt darauf Bezug. Es ist eine spiegelnde Fläche, auf der mit schwarzer und weißer Farbe das Motiv aufgedruckt ist. Ich weiß noch nicht, ob es sich machen lässt, dass durch eine gezielte Beleuchtung die Reflexion an die Decke projiziert wird. Aber wenn das möglich ist, wäre es natürlich auch eine charmante Einbindung des Begriffes in eine bauliche Gegebenheit und in ein Reflexionsfeld, das letztendlich in einer gedachten Vertikalachse situiert ist.
MP: Dieser Raum wird von dir in einer sehr modernen Form verwendet. Du interpretierst ihn durch deine Werke um, lässt dich nicht von ihm determinieren. So wird die gesamte Ostwand von einer flächenfüllenden Tapete bedeckt sein, und gegenüber werden drei große Triptychen hängen. Dennoch sehe ich eine gewisse Bereitschaft deinerseits, in einen Dialog mit diesem Raum zu treten, insofern, als du ihn durch deine Objekte gewissermaßen mit symmetrisch positionierten Stationen bespielst und auch noch so etwas wie eine Ikonostase einführst: eine Trennung zwischen dem Saalraum und dem Chor. Aber bleiben wir noch im Eingangsbereich: Wenn man aus dem nachgerade intimen Vorraum in den Hauptraum tritt, erscheint auf der Rückseite der Trennwand etwas, das an ein Kreuz erinnert: Ein weißer Senkrechtstreifen auf schwarzem Grund trägt – fast in der Art einer Retrospektive – zehn kleine Gemälde aus einer früheren Werkphase. Der Querbalken dieses „Kreuzes“ beinhaltet zwei Wörter: „tolle“ und „lege“, also „nimm“ und „lies“. Das ist ja eine Art Motto: eine Aufforderung. – Worauf nimmt das Bezug?
JB: Augustinus von Hippo, eine der wirkmächtigsten Persönlichkeiten der Kirchengeschichte, erzählt in seinen Bekenntnissen von jenem Moment in seinem Leben, der ihn dazu geführt hat, seinen christlichen Lebensweg zu verfolgen (Conf. VIII 12,29). Als er in diesem krisenhaften Moment eine kindliche Stimme hört, die in einem Singsang dieses „tolle, lege“ permanent wiederholt, nimmt er darin ein Zeichen wahr, dem er zu folgen hat. Und er nimmt die heilige Schrift und schlägt sie auf und findet dort lesend jene Antwort, die er existenziell gesucht hat und die sein Leben ganz grundsätzlich verändern sollte (Röm 13,13–14). Dieses „tolle, lege“ nehme ich in dieser Dramatik für meine Arbeiten natürlich nicht in Anspruch. Aber im übertragenen Sinn heißt nehmen begreifen, also etwas in die Hand nehmen und lesen. Das sind zwei Rezeptionsdimensionen, die mir im Zusammenhang mit meiner Arbeit schon etwas bedeuten, geht es doch darum, den Buchstaben, die uns bisher in der Fläche begegnen, einen Raum zu eröffnen, indem ich sie nicht nebeneinander stehen lasse, sondern hintereinanderstelle und die Zwischenräume mit Übergangsformen fülle. Auf diese Art und Weise entstehen die Wortkörper. Sie entziehen sich zwar dem skopischen Treiben unserer erlernten Literalität. Aber es ist die Frage, ob so etwas wie eine taktile Literalität denkbar ist. Das ist der experimentelle Charakter, den ich gemeinsam mit den Menschen, denen diese Arbeiten begegnen, verfolgen möchte. Ich stelle folgende Frage: Ist am Ende der Gutenberggalaxis so etwas wie eine taktile Literalität denkbar, erfahrbar? Dazu sind die Wortkörper sozusagen Experimentierfelder.
MP: Das passt jetzt sehr schön zu der zitierten Stelle aus den Confessiones, an der Augustinus erzählt, wie seine Seele durch den Singsang dieses Kindes berührt wird. Wenn du die Buchstaben in deinen Werken – um 90 Grad gedreht – hintereinanderstellst und sie miteinander zu einer Form verschmilzt, wird aus dem – gedachten oder gesprochenen – Wort gewissermaßen Gesang. Das Wort beginnt zu schwingen, zu tönen. Du hast schon vor längerer Zeit einen Weg beschritten, der jetzt, wie ich an den neuen Objekten beobachte, noch eine neue Wendung nimmt. Insofern nämlich, als du die einzelnen Lettern nun nicht mehr einfach in eine Reihe hintereinanderstellst und die Übergänge verschleifst, sondern diese verschmolzene Buchstabenreihe dann auch noch biegst oder über eine Stange hängst (wie die Eherne Schlange im Tanach; Num 21,6-9), zum Beispiel im Objekt „Europe“. – Wie kam es dazu?
JB: Vor den ersten Wortkörpern war das bewegte Bild. Weil ich diese Übergangsformen als Outlines in dem Grafikprogramm, in dem ich sie verarbeitet habe, in Ebenen bringen konnte und diese Ebenen dann in einer Filmsequenz in Abläufen, 24 Bilder pro Sekunde, sichtbar geworden sind. Daraus haben sich tatsächlich, wenn wir bei deinem Bild bleiben wollen, tanzähnliche Bewegungen ergeben. Die einzelnen Worte haben sozusagen zu tanzen begonnen. In einem weiteren Schritt habe ich diese Zwischenformen in 3D-Programmen, am Anfang noch mit Schwierigkeiten, miteinander verbunden. Und schwierig ist es heute auch noch, aber es gelingt mir, immer weitere Gestaltungsschritte im dreidimensionalen Raum zu erschließen. Die ersten Arbeiten haben für mich ihren Charme darin gezeigt, dass diese organisch anmutenden Formen gleichsam wie von selbst entstanden sind und mein Zutun sich darauf beschränkt hat, diese Formen zu realisieren. Und zwar so zu realisieren, dass sie technisch möglich geworden sind. Dabei dürfen sich die Außen- und die Innenflächen nicht kreuzen, die Oberfläche muss ein geschlossenes Ganzes zeigen und parallele Oberflächen dürfen sich nicht so nahe kommen, dass die technische Umsetzung unmöglich wird. Also während am Anfang die Wortkörper einer Achse gefolgt sind, auf der die um 90 Grad gedrehten Buchstaben und ihre Zwischenformen aufgereiht waren, so verforme ich nun auch diese Achse. Wenn du sagst, daraus entsteht Gesang, dann ist es wohl letztendlich ein „gefrorener“ Gesang, ein Gesang, der nicht mehr mit dem Ohr wahrnehmbar ist. Er ist nicht dem auditiven, sondern dem skopischen Treiben anempfohlen und mit dem taktilen Wahrnehmungsspektrum auszuloten. Dieser weitere Schritt ist für die Ausstellung am 22. September besonders wichtig. Daran habe ich seit den vergangenen Ausstellungen voriges Jahr in Leoben und in der Galerie Subal und 2014 in der Galerie Gut Gasteil gearbeitet und damit den Körpern noch eine zusätzliche Dynamik verleihen können.
MP: Es wäre jetzt natürlich sehr schön, könnten wir von Objekt zu Objekt gehen und über jedes einzelne sprechen. Aber um nur ein paar deiner Werke herauszugreifen: Wie eingangs schon erwähnt, haben die von dir verwendeten Wörter zum Teil eine große Karriere in der abendländischen Philosophie hinter sich gebracht. Zum Teil bestimmten sie über fast 3.000 Jahre unser Denken. Darunter sind ein paar ganz gewichtige. Ich denke etwa an das „on“, „Sein“, oder an „telos“, „Ziel“. Das sind ja zwei ganz bedeutende griechische Begriffe, denen du auch eine ganz besondere Form gegeben hast. Beim „on“ etwa entsteht aus diesen zwei Buchstaben eine Kreisform. – Wie verhalten sich hier Inhalt und Form zueinander?
JB: „on“, das mit „seiend“ übersetzt werden kann, ist Teil eines Begriffes, der in der Philosophiegeschichte vergleichsweise jung ist. Denn erst im 16. Jahrhundert dürfte die „Lehre vom Sein“ als „Ontologie“ bezeichnet worden sein. Das heißt aber nicht, dass die Fragen nach dem, was ist, und das Bemühen um eine vernunftgemäße Einteilung des Seienden erst in dieser Zeit Konjunktur hatten. Wir sind mit dem „Seienden“ tief in der Philosophie der griechischen Antike angelangt. Seine Form verdankt dieser Wortkörper hingegen der altpersischen Dichtung. Das kommt so: Goethe hat in seinem „West-östlichen Diwan“ einen Gedanken aufgegriffen, den er in der altpersischen Lyrik vorgefunden hat, das „Stirb und werde“. Insbesondere die Verse des Dichters Hafis aus dem 14. Jahrhundert haben es ihm angetan. In diesem Gedicht geht es um die Metapher vom Schmetterling, der, vom Licht der Kerze angezogen, darin umkommt. André Gide hat übrigens seine Autobiographie unter diesen Titel des „Stirb und Werde“ gestellt. Es ist also in diesem altpersischen „Stirb und Werde“ von einer Dynamik die Rede, die dem Leben als zyklische Bewegung eingeschrieben ist. Und diese Dynamik der Kreisbewegung hat sich bei jenem Begriff angeboten, der im Griechischen „on“ heißt.
MP: Die Kreisform ist also als Ausdruck des Beginnens und Werdens, dieses unendlichen Zyklus, zu verstehen?
JB: Lassen wir Goethe antworten:
Und so lang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.
Der Gedanke der Metamorphose begleitet die Geistesgeschichte des Abendlandes – denken wir nur an Ovids Metamorphosen – und findet eben bei Goethe einen fast formelhaften Ausdruck. Er taucht ja auch in der zeitgenössischen Trivialkultur auf. Im „Schweigen der Lämmer“ gibt es diese Schmetterlingsmetapher auch wieder. Damien Hirst macht den Schmetterling zur Ikone, die er mit Diamantenstaub veredelt. Es ist also ein bis in die Gegenwart geläufiger Topos in unterschiedlichen Diskursen.
MP: Ein Topos, der eben weit zurückreicht! Das Motiv der Ewigkeitsschlange gab es ja bereits im Alten Ägypten, und dann taucht der Ouroboros, die Schlange, die sich in den Schwanz beißt, in der Romanik wieder auf. Telos, das Ziel, hat bei dir hingegen eine ganz andere Form.
JB: Und eine Umsetzung in der Fläche. In einem dieser Triptychen taucht dieses „telos“ wieder auf. Es steht auch in einer Achse mit dem dreidimensionalen Begriff „telos“, einem Objekt, das in Aluminium gegossen und weiß pulverbeschichtet ist und das dann auch zu begreifen ist. Es ist ein abstrakter Begriff, dieser Zielbegriff, der in seiner Etymologie, in seiner Entstehungszeit im alten Griechenland eine Vielzahl von Bedeutungen gehabt hat bis hin zum verwaltungstechnischen Steuerwesen, bis hin zum Ziel, das im Kriegshandwerk Bedeutung hat. In der Übertragung, in der Metaphorik bezieht sich dieses „telos“ auf etwas, das in der Zukunft liegt. Etwas, worauf wer oder was auch immer hinsteuert. Die Teleologie ist das Diskursfeld, in dem es darum geht, solche Zielperspektiven wahrzunehmen. Die Frage, der gegenüber sich die Teleologie vorfindet, ist, ob Geschichte tatsächlich solche Zielvorstellungen zeigt. Die Teleologie einer apokalyptischen Weltsicht wird sich grundsätzlich von einer positiv-utopischen Teleologie unterscheiden. Aber dass wesentliche Denker wie Kant oder Hegel und dann der Hegelianer Marx oder im 20. Jahrhundert der heute zu Unrecht fast vergessene Alfred North Whitehead solche Teleologien quasi wie naturwüchsig wahrgenommen haben in ihrem Denken, erscheint mir auch in der Gegenwart bedeutsam. Die Frage, ob wir in einer Welt leben, in der es teleologisch definierbare Entwicklungen gibt, in die wir eingebunden sind, ist aber nicht zwangsläufig zu bejahen und bleibt weiteren Diskursen überantwortet.
MP: Ja, die abendländische Geschichte, das abendländische Denken, kennt ja beides, das apokalyptische und das positive Telos. Alleine wenn man das Jüngste Gericht im christlichen Verständnis hernimmt, ist es einerseits von apokalyptischen Erscheinungen als begleitet vorzustellen (jedenfalls wenn man sich da an die Offenbarung des Johannes hält, über die man natürlich noch eigens reden könnte), grundsätzlich ist es aber von einer positiven Jenseitsvorstellung geprägt. Es bedurfte daher dann nur eines weiteren Schrittes, um dieses positive Ziel in die Immanenz, in die Welt des Hic et Nunc, des Hier und Jetzt, hereinzuholen, als man in der Moderne (wenn wir die vormoderne Zeit ab 1800 dazurechnen) glaubte, es sei möglich, idealische Zustände hienieden zu schaffen. Aber dieses Projekt ist, wie wir wissen, gescheitert. Die Wende 1989 hat uns das deutlich gemacht. Weil das Ziel wegfiel, hat ja Francis Fukuyama das Ende der Geschichte proklamiert. Dessen ungeachtet geht der historische Prozess weiter, und wir sehen, dass wir unsere Ziele tagtäglich neu definieren müssen, auch wenn wir mittlerweile verstanden haben, dass es keinen Weg gibt, der linear zum Positiven hinführt. Wir alle haben, in dieser langen Friedenszeit lebend, Frieden als gegeben angenommen und sind heute mit einer Welt konfrontiert, die von unübersehbar vielen Konflikten geprägt ist. Wir haben das ganze Leben in einer Demokratie verbracht und geglaubt, dass sich diese weltweit ausdehnen wird, und müssen uns heute der Tatsache stellen, dass die Entwicklung genau in die Gegenrichtung verläuft. Also: „telos“ ist etwas, was immer neu verortet werden muss. Und auch der Weg dorthin will immer wieder von Neuem angelegt werden.
Wenn wir jetzt in deiner Ausstellung noch einen Schritt weitergehen, also Richtung ehemaligen Altarraum, kommen wir zu der vorhin schon angesprochenen Ikonostase. Sie ist zweiseitig. – Stehen die beiden Seiten zueinander in Beziehung?
JB: Von der Seite des Langschiffes aus betrachtet, versperrt die Ikonostase den Blick in den dahinterliegenden Chor. Die Ikonostase zeigt nach dem derzeitigen Plan 16 Begriffe aus den beiden Sprachwelten des Hebräischen und des Altgriechischen. Allerdings in der Fläche, allerdings als Outline. Es sind Grafiken, die erst erahnen lassen, welche räumliche Tiefe sich hinter dieser Oberfläche allenfalls entfalten kann. Zum Teil sind die Begriffe als Wortkörper bereits im Ausstellungsbereich ertastbar. Zu einem leider viel zu großen Teil sind sie noch nicht realisiert und es wird die Herausforderung der Zukunft sein, das zu machen, das auch zu finanzieren, was nicht so einfach ist. Diese Zwischenwand, die auf der einen Seite die Ikonostase zeigt, hat auf der Rückseite ein ebenfalls zweidimensionales Bild, das aus der Wortkörperproduktion erwachsen ist. Es zeigt jenen Begriff „pan“, der so viel wie „Alles“ heißen mag. Und die entsprechende göttliche Figur in der altgriechischen Erzähltradition hat ja eine sehr vielschichtige Konnotation erhalten. Man denke z.B. an den Mittagsschrecken, jene Panik, die diesem Gott zugeschrieben worden ist. Also auch zu diesem Begriff gibt es eine zeitliche Zuschreibung, wie ja die gesamte Sakralarchitektur zeitlichen Zuschreibungen in den Jahresläufen und in den Zeitläuften zu entsprechen hat. In diesem Fall zeigt diese Abbildung den Wortkörper „pan“ in einer Art Explosion. Das mag an ein zeitgenössisches Mythologem erinnern, das aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stammt, als der belgische Jesuit Georges Lemaître jene kosmologische Theorie formulierte, die dann als Urknall bezeichnet worden ist.
MP: Eines ist auffällig: dass hinter der gesamten Disposition, hinter dem Layout der Ausstellung, hinter jedem einzelnen Objekt ein ganz hohes Reflexionsniveau steht. Deine Werke entstehen, das ist offenkundig, aus tiefgreifenden, komplexen Überlegungen. Andererseits hat die Form der „Wortkörper“, die sich durch die – um 90 Grad gedrehten, hintereinandergestellten – Buchstaben, die in den einzelnen Wörtern nun mal vorkommen, ergibt, auch etwas Zufälliges. Der Zufall spielt ja in der zeitgenössischen Kunst eine ganz große Rolle, weil er den Künstlern und Künstlerinnen hilft, erstarrte, formale Strukturen, in die man hineingerät wie in eine ausgefahrene Spur, zu überwinden. Der Zufall ist eine Möglichkeit, aus ikonographischen, also inhaltlichen Festlegungen einerseits, aus formalen, also stilistischen Traditionen andererseits herauszukommen. – Daher die Frage: Welche Rolle spielt der Zufall in deiner Arbeit?
JB: Am Ursprung eine sehr große. Die kleinen Malplatten bei diesem „tolle, lege“ sind sehr, sehr zufallsgesteuert entstanden. Die Platten sind mit Ölfarbe bedeckt und paarweise aufeinandergeklatscht worden und daraus haben sich Texturen ergeben. Die Aufforderungen, diese Texturen zu lesen, entsprechen ja auch einem Gedanken, der spätestens mit da Vinci formuliert worden ist und der uns bis in die Gegenwart begleitet, wo die flüchtige Berührung der Farbe mit dem Malgrund, zufallsgesteuert oder automatistisch aufgetragen, zu den eben tachistischen Objekten und Malflächen führt. Die Frage, wie weit die Objekte, mit denen ich es zu tun habe, dem Zufall einer Computergenerierung entspringen, muss ich mit einem „leider nein“ beantworten. Weil meine Aufgabe darin besteht, bereits mit den ersten Skizzen auf Papier – denn am Computer ist dann nur mehr die Ausführung abzuarbeiten – das Volumen der Körper zu definieren. Die grundsätzliche Planung und Gestaltung passiert nach wie vor in der Handzeichnung auf kleinen Zetteln, auf denen dann die Umrisse der Buchstaben zu sehen sind. Ich habe dann auf diesen Umrissen einzutragen, wo ich jene Punkte setze, aus denen dann das Rechenprogramm die Raumtiefe wie in einem Netz erstellen kann. Ich habe also, bevor ich den Computer überhaupt angreife, bereits ein in die Tiefe des Raumes führendes Oberflächennetz zu planen, das es dann den Programmen ermöglicht, in den Ausführungsschritten dieses Objekt virtuell herzustellen. Der zweite Schritt ist dann, dieses virtuelle Objekt zu überprüfen, ob das, was ich in den ersten handskizzierten Planungen vorgesehen habe, realisierbar ist. Oder ob sich schon im Computer, am virtuellen Körper, zeigt, dass er sich auf Arten verknotet, die sicherlich nicht beabsichtigt sind. Der Zufall ist in diesem Zusammenhang dann eher auf Fehler in meinen Realisierungsschritten zurückzuführen. Und das sind auch sehr langwierige und zum Teil nervenzerfetzende Lernschritte gewesen, die mich aber gelehrt haben, heute sehr viel effizienter arbeiten zu können als am Beginn. Aber das großartige Abenteuer besteht nach wie vor darin, nach den aufwendigen Vorarbeiten den Körper am Bildschirm drehen zu können und das erste Mal auch wirklich zu sehen, dass er funktioniert und dass er eine Oberfläche zeigt, die Formen hervorbringt, die du als erotisch bezeichnet hast. Es ist vergleichbar mit meiner Erfahrung, die ich seinerzeit als Grafiker, als Radierer gehabt habe, wenn ich über lange Zeit an einer Platte gearbeitet habe und dann in der Druckerpresse den ersten Druck vorsichtig von der Platte abhebe und nun das erste Mal das dann seitenrichtige Ergebnis meiner Anstrengung vor Augen habe. Und dieses, wie sollen wir denn das nennen, dieses Aha-Erlebnis, dieses „Recht des ersten Blickes“, das ist eine sehr, sehr intime und aufregende Angelegenheit.
MP: Du hast das „tolle et lege“ noch einmal angesprochen. Daraus wird schon klar, wir haben uns mittlerweile zum Eingang zurück und damit in Richtung Ausgang bewegt. Als wir hereinkamen, sind wir bei den Objekten „nyn“ und „pan“ vorbeigekommen, die das „Jetzt“ und „Alles“ ansprechen. Vor dem Hinausgehen werden wir – auf der gegenüberliegenden Seite – einem anderen Objektpaar begegnen: „bios“ und „zoe“. Es erinnert daran, dass die angesprochene Wirkmacht der alten Begriffe aus der griechischen Philosophie nicht nur in den visuellen Medien, sondern natürlich auch im zeitgenössischen Diskurs ungebrochen ist. Dieses Mit- und Gegeneinander von zwei Seiten des Lebens im Menschen hat uns ja Giorgio Agamben wieder zu beachten gelehrt. Du bist also mit diesem zeitgenössischen Philosophen in bester Gesellschaft, wenn du diesen Begriffen ein so besonderes Augenmerk schenkst. – Genießt du diese Nähe?
JB: Naja, ich weiß nicht, ob ich mich da in der besten Gesellschaft befinde, weil Agamben ist ja nicht unumstritten und es wird sicherlich Kritik an seinen Arbeiten anzubringen sein. Aber das mögen Berufenere machen, als ich es bin. Das Gleiche gilt übrigens für fast alle Gegenwartsphilosophen. Sloterdijk ist da nicht ausgenommen. Das Begriffspaar „bios“ und „zoe“ ist deshalb so spannend, weil hier nicht nur ein aktueller, sondern ein weit in die Antike zurückreichender Diskurs anklingt. Auch Aristoteles hat sich schon über die Differenz dieser beiden Begriffe seine Gedanken gemacht. Auf eine Formel gebracht, könnte man sagen, diese Differenz besteht darin, dass Götter über „zoe“ verfügen, wegen ihrer Unsterblichkeit aber nicht über „bios“. Beide Begriffe werden mit „Leben“ übersetzt. Die Lebensdimension von „bios“ hat wohl viel mit unserem organischen, körperlichen Dasein zu tun. Das ist auch ein Aspekt, der mit den Wortkörpern in eine spannende Beziehung führt. „zoe“ hingegen wird etwas sein, das vielleicht mit dem sozialen, kulturellen Leben zu tun haben wird. Die Götter haben, wenn man den Erzählungen glauben möchte (lacht), durchaus ein sehr reges Sozialleben geführt. Dass es ihnen an „bios“ mangelt, ist eine gleichsam blasphemische Unterstellung, die aber möglicherweise im späten Hellenismus zu einer neuen, wirkmächtigen Erzählung geführt hat. Ein Gott, dem es an irgendetwas mangelt – das hat uns schon Sokrates anhand des Eros gezeigt – ist bestenfalls ein Dämon. Denn die göttliche Daseinsfülle kann keinen Mangel kennen. Dass es in diesem Diskurs um „bios“ und „zoe“
MP: Das ist ein wunderbares Schlusswort, das ich nicht verwässern möchte. Ich will nur noch einmal unterstreichen, dass es gerade in einer Zeit, in der die Globalisierung nicht nur in unserem Kleiderschrank angekommen, sondern ein Phänomen ist, mit dem wir uns tagtäglich auseinandersetzen müssen, sehr wichtig ist, welche Begriffe die Denkstrukturen in Europa bis jetzt geprägt haben und wie weit sie dazu dienlich sind, um sich mit den tagtäglich sich verändernden Strukturen auseinanderzusetzen und in einen kreativen, produktiven Prozess einzutreten. – Eine Frage muss ich aber noch loswerden: Wer ist dein Publikum? Alles, was du hier anbietest, befindet sich auf einem sehr, sehr hohen Niveau: ästhetisch wie inhaltlich. Wen sprichst du mittels deiner Ausstellung an? Wer ist dein/e Adressat_in?
JB: Dialogpartner wird jede, jeder sein, die/der einem inzwischen auch schon in die Jahre gekommenen Imperativ nachkommen möchte. Jenem „sapere aude!“, jenem „wage zu denken!“, das auf Begriffe zurückkommen möchte, die bedeutungsgeladen sind und deren Bedeutung für die Gegenwart neue Zuschreibungen erfordert. Und das wiederum braucht Diskurse und Denkprozesse, zu denen ich gerne einladen möchte – mit einem Surplus, nämlich mit jener Erfahrungsdimension, die mit dem geschriebenen Wort bislang in keiner Weise in Deckung gebracht worden ist, wenn man von der sogenannten schwarzen Kunst der Buchdrucker absieht. Aber einen Begriff begreifen zu können, das ist eine Erfahrung, die vielleicht neu sein könnte.
MP: Das schlägt natürlich noch einmal einen Bogen auch zu Augustinus zurück, auf den wir heute schon zu sprechen kamen. Wovon sich dieser abgewandt hat, weil er es nachträglich, nachdem er sich dem Christentum zugewandt hat, als so unbefriedigend angesehen hat, war ja der Manichäismus: Diesem war er immerhin zehn Jahre angehangen. Diese spätantike Offenbarungsreligion, die sich von Persien herkommend in der späthellenistischen Welt verbreitete, war ja dadurch geprägt, dass sie das Erste Testament, das Alte Testament, in einem antithetischen Verhältnis zum Zweiten Testament, dem Neuen Testament, stehen sah; die Manichäer haben ja die Schöpfung der Welt als das Produkt eines rachsüchtigen, bösen Schöpfergottes gesehen, die durch Christus als dem guten, geistigen Wesen erlöst werden müsse; schließlich würde nur noch ein Klumpen Materie zurückbleiben. Das Christentum sieht das ja anders, dass nämlich auch die Materie vom Geist und von der Gnade durchwirkt sei und dass die Gnade vom Zweiten Testament ausgehend auch das Erste Testament erfüllt habe. Aber während der Manichäismus dank Augustinus zurückgewiesen wurde, verquickte sich gerade in der Lebenszeit des Kirchenvaters, im 4. und frühen 5. Jahrhundert, das Christentum mit dem Neuplatonismus. Und dieser ist sich mit dem Manichäismus hinsichtlich der Hochschätzung des Geistigen und der Abwertung des Körperlichen einig; ja, diesbezüglich sind der Manichäismus und der Neuplatonismus gewissermaßen Geschwister. Und das Abendland zieht diese Tradition, in der die Materie, der Körper, der Eros, das Lachen etc. als etwas Negatives abgetan wurden, immer noch hinter sich wie eine schwere Schleppe her. Daraus ist der Versuch erklärbar, mit dem Geist, mit dem Intellektuellen und dem Spirituellen sich über die Materie hinwegschwingen zu wollen. Wir sind, wenn ich es recht sehe, im zeitgenössischen Diskurs gerade in einem neuen Hoch des Neuplatonismus. Ich denke, dass auch du mit deiner Ausstellung das Begriffliche als treibende Kraft ins Zentrum stellst. Aber durch den „Trick“ des Umdrehens der Buchstaben und ihre Verschmelzung bringst du doch auch eine sinnliche, ja erotische, nach Ertasten schreiende Dimension herein. Und das finde ich einen sehr individuellen und sehr mutigen Ansatz.
JB: Das hat auch mit Spiel zu tun. Denn die Buchstaben aus der Fläche zu holen, sie um neunzig Grad zu drehen entzieht der Schrift ihren angestammten Nutzen und eröffnet sozusagen das Feld des Spieles. Aber wenn wir Schiller glauben wollen, sind wir nur dort voll Menschen, wo wir spielen dürfen.
MP: Das würde ich voll unterschreiben (lacht).
E: johannberger@chello.at
T: 0043-676-416-06-20