Gauermann Museum

Ausstellungseröffnung

„Kleine Szenen“
von Charlotte Seidl

Ausstellung im Gauermann Museum

Johann Berger, 2015

 

Sehr geehrte Damen und Herren!

Die hier ausgestellten Arbeiten von Charlotte Seidl erfordern unkonventionelle Zugangsweisen. Ich darf Sie dazu einladen und in vier Schritten dabei begleiten.

Den ersten Schritt in die Kunstgalaxis der Charlotte Seidl setzen wir in einer einfachen Übung. Bitte schließen Sie Ihre Augen. Was sehen Sie? Schwarz oder Farben? Flimmert etwas? Erkennen Sie Formen? – Willkommen in der Welt hinter der Oberfläche banaler Alltagsbegegnungen! An visuellen Orten wie diesem entsteht gelegentlich Kunst.

Ein zweiter Schritt führt in eine weit entfernte Zukunft. Stellen Sie sich vor, in einigen tausend Jahren – ich schlage die bescheidene Zeitspanne von fünf bis sechs Jahrtausenden vor – stoßen die Nachfolger der zeitgenössischen Archäologenzunft auf Arbeiten aus dieser Ausstellung. Was an dieser Vorstellung verblüffen mag: das ist durchaus möglich! Wenn die hartgebrannten Tontafeln die Zugriffe apokalyptischen Personals aus dem Kunstumfeld überstehen, also die Anstrengungen des Reinigungspersonals oder mancher institutioneller Entscheidungsträger, ist es sehr wahrscheinlich, dass von diesen insgesamt bald 200 Platten die eine oder andere nicht auf Steinböden geschmissen oder mit Vorschlaghämmern traktiert worden sein mag. Es gibt sonst nichts, was Keramik zerstören kann. Die hier ausgestellten Arbeiten sind sozusagen unkaputtbar. Sie hängen da, wie Briefe an ferne Zukünfte.

Der Zeitraum von fünf bis sechs Jahrtausenden ist nicht zufällig gewählt. In die Vergangenheit projiziert, verweist er auf die Ursprünge der Schriftkultur; auf Zeichen, die in Tontafeln geritzt, den neuzeitlichen Gelehrten über viele Generationen Rätsel aufgegeben haben. Heute wissen wir großteils, was die Sumerer aufgezeichnet haben. Oft sind es Bestandslisten von Gütern. Vieh zum Beispiel. Der erste Buchstabe unseres Alphabetes zeigt noch heute die Gestalt des protosemitischen Rindskopfes.

Was also werden die künftigen Betrachterinnen und Betrachter aus der fernen Welt der Nachgeborenen fragen? Wie werden sie die Bilder interpretieren? Als Relikte einer vergessenen Kultur? Als Dokumente verschollener Mythen? Wird angesichts der rätselhaften Darstellungen jemand auf die Idee kommen und sagen: „schließt jetzt eure Augen und achtet auf die Bilder, die dann aufsteigen“?

Da haben wir es heute leichter. Erstens ist Charlotte Seidl hier und könnte erzählen, warum auf der Platte fünf Frauen und drei Schiffe zu sehen sind.

Sie bemerken einen heimtückischen Konjunktiv.

Und zweitens sieht das Ritual der Ausstellungseröffnungen das Amt des Erklärers vor, der uns in der Fremde der Kunst beheimaten soll – der Vorstellung folgend, nach der man nur sieht, was man weiß und man nur wissen kann, was erklärt worden ist.

Also passen Sie auf, ich erkläre Ihnen jetzt, was auf dieser Tafel an geheimnisvollen Gestalten zu erkennen ist. So, wie ich Charlotte kenne, bedeutet das nichts anderes, als – „Stop!“ ruft jetzt eine Stimme aus der Vergangenheit. Kein geringerer als Sigmund Freud gemahnt Diskretion ein. Denn unter den Bildinhalten befinden sich solche, „die ich gerne vor Fremden geheimhalte und ohne schwere Verletzung wichtiger Rücksichten nicht mitteilen kann“. Und weiter: „Bei jedem Bild, dessen Inhalt dunkel und verworren ist, würde ich auf Bildgedanken stoßen, die Geheimhaltung erfordern.“

Sie kennen die zitierte Passage Freuds aus dem Jahr 1901 und haben natürlich meinen kleinen Kunstgriff bemerkt, nämlich dort, wo „Traum“ steht, „Bild“ einzusetzen. Damit ist der dritte Schritt in die Kunstgalaxie der Charlotte Seidl gesetzt, mitten hinein in die „dunkle und verworrene“ – vielleicht besser: „verwirrende“ Bildsprache. Doch nein, auch verwirrend sind diese Bildszenen nicht. Geheimnisvoll, das ja. Ihre Bildsprache aber ist klar, die Figuren sind auf das Wesentliche reduziert. Der Bildraum kommt ohne perspektivische Fluchtpunkte aus, allenfalls entsteht er aus kulissenähnlich hintereinander gefügten Bildebenen. In dieser Einfachheit, der wir fast so etwas wie Bescheidenheit zuschreiben möchten, liegt jedoch ein besonderer Reiz. In ihrem beinahe formelhaft anmutenden Erscheinen kommen die Figuren präzise daher. Wie einem langen Gestaltungsprozess entwachsen, dem alles Überflüssige zum Opfer gefallen ist. Auch wenn sie anscheinend von leichter Hand souverän gezeichnet worden sind, so ist es, als ob die Formensprache einem Gesetz gehorchen möchte, das da lauten mag: „Disziplin, Charlotte, Disziplin!“

Vielleicht liegt darin der besondere Charme der Bildtafeln von Charlotte Seidl: im Widerspruch, der sich auftut zwischen dem geheimnisvollen Setting, dem unentschlüsselbaren Geschehen in den Szenen auf der einen Seite und der so einfachen Formulierung dieser Ereignisse auf der anderen. In dieser Einfachheit vermuten wir ein Versprechen – es sei auch einfach, zu erkennen, worum es hier geht. Und schon hat uns das Bild eingenommen, wir suchen nach Vertrautem, nach Anknüpfungspunkten, um die Erfahrungshorizonte der eigenen Biographie an wenigstens ein Bildelement zu binden, von dem aus sich die gesamte Erzählung erschließen möge. Als ob er die Bildtafeln der Charlotte Seidl kennen hätte können, sagte Marc Chagall 1946 in einer Vorlesung an der Universität von Chicago:

„Es sind so viele Dinge im Reich der Kunst, für die schwer Schlüsselwörter zu finden sind. Aber warum eigentlich muss man unbedingt versuchen diese Tore zu öffnen? Manchmal scheint es, dass sie sich von selbst auftun, ohne Anstrengung, ohne überflüssige Worte.“

Sehr geehrte Damen und Herren, Chagall spricht hier von jenem Idealfall, in dem das Kunstwerk eine Resonanz in den Klangräumen der Seele erzeugt. Dann bewegt sich etwas, in den entlegenen Regionen vergessener Empfindungen. Dann berührt uns die Kunst.

Die Begegnung mit den Arbeiten von Charlotte Seidl gelingt, wenn wir das Kunststück fertigbringen, gleichsam mit geschlossenen Augen auf die Bildtafeln zu blicken. Dann eröffnen sich die Szenen, wie eigene Traumgesichte, die Botschaften aus den Abgründen des eigenen Inneren zutage bringen wollen. Botschaften, die wir zuweilen gerne vor Fremden geheim halten. So gesehen sind die Bilder Briefe an die Intimzonen unserer Seelen. Ich bin sicher, sie finden ihre Adressaten. Heute wie in fünf-, sechstausend Jahren.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

 

Literatur:

Sigmund Freud, Werkausgabe in zwei Bänden. Herausgegeben von Anna Freud und Ilse Grubrich-Simitis. Band 1, S. 104.
Siehe auch: http://www.audioreader.org/Material/PDF/T-Freud-U%CC%88ber_den_Traum.pdf

Marc Chagall, zitiert in: Ingo F. Walther, Rainer Metzger: Marc Chagall 1887–1985. Malerei als Poesie; Seite 78
Johann Berger

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