Botschaft von Ungarn in Wien

Ausstellungseröffnung

Aktuelle Kunst aus Ungarn

Johann Berger, 2004

 

Sehr geehrte Damen und Herren!

Sehr gerne komme ich der freundlichen Einladung nach und darf Ihnen einige Gedanken zu den hier gezeigten Arbeiten ungarischer Künstler anbieten. Ein wenig treibt mich auch meine eigene Neugierde, eröffnet mir doch diese Gelegenheit auch jenes historisch so interessante Terrain, das mit der Adresse Bankgasse 4-6 zu erschließen wäre. An den Hausnummern ist es noch erkennbar, wir befinden uns in einem Anwesen, das aus zwei Häusern besteht. Heuer vor 220 Jahren ist aus den beiden Stadtpalais der Familien Strattmann-Windischgrätz und Trautson auch durch die gemeinsame Fassade aus der Werkstatt des Lukas von Hildebrand ein Haus geworden.

Auf 1784 datiert auch die Veröffentlichung folgender Worte:

„Zu dieser Aufklärung aber wird nichts erfordert als Freiheit; und zwar die unschädlichste unter allem, was Freiheit heißen mag, nämlich die: von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen.“

Immanuel Kants „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung“ mag als Zeugnis für das vielleicht geschichtswirksamste Projekt Europas stehen, nicht weil ihn die Mode der Gedächtnisjahre heuer zum Stichwortgeber des Feuilletons gemacht hat, sondern weil dieses Primat einer Freiheit des Denkens bis heute ein – nicht nur durch die Politik – immer wieder neu zu erstreitendes Gut darstellt.

Aus der Geschichte dieser beiden Häuser sind die Zeitläufte so klar wie selten an einem Ort ablesbar, zumal an einem 6. Oktober, einem Datum, das für die Geschichte Ungarns und Österreichs so bedeutsam geworden ist. Der Kampf des ungarischen Volkes um Autonomie und seine Identität, die ohne den Zwang einer Fremdherrschaft zur Entfaltung gelangen will, ist mit der Erinnerung an das Revolutionsjahr 1848 und die Niederschlagung des Freiheitskampfes 1849 verbunden.

Daß neben dem so bedeutsamen Jahr 1989 auch das Jahr 2004 einen Anlaß für hoffentlich erfreuliche Gedenktage gibt, davon gehen wir heute voll Optimismus aus. Und dass wir Grund für diesen Optimismus haben, dafür ist die zu würdigende Präsentation ungarischer Gegenwartskunst ein deutlicher Hinweis. Diese von Dr. András Kenessei und Frau Katalin Herscovici so feinfühlig in das historische Ambiente gesetzte Ausstellung lässt in einer spannenden Begegnung die Repräsentationskunst aus der Zeit Maria Theresias auf die kompetent und gewissenhaft erstellte Auswahl aktueller Positionen treffen. Damit ist eine metaphorische Situation geschaffen, in der unser Platz, der Platz, der den Betrachterinnen und Betrachtern eröffnet worden ist, zu einem kulturgeschichtlichen Labor gerät. Wir stehen also inmitten eines Spannungsbogens, der rund 200 Jahre Kunstgeschichte umfasst, der in seiner geistesgeschichtlichen Dimension das Projekt der Aufklärung tangiert und dessen politische Bedeutung hier nur kurz angesprochen werden konnte.

Rund 200 Jahre Kunstgeschichte sind vielleicht in einer Entwicklung zu umreissen, die vom Auftragswerk zum autonomen Kunstwerk führt. Es ist dies eine Entwicklung, die von Goya bereits vorweggenommen worden ist, wie vieles in seinem Oevre weit über seine Entstehungszeit hinaus weist. Doch ist in diesem Vorwegnehmen eine jener Funktionen genannt, die wir der Kunst gerne zuschreiben. Allerdings vermögen wir das Vorweggenommene meist erst aus der historischen Distanz zu erkennen, was die Frage aufwirft: ist das Kunstwerk ein willfähriges Opfer unserer Interpretation? Sagt also die Aussage über das Werk mehr über den Betrachter, die Betrachterin aus, als über das Werk?

Gestehen Sie es mir bitte zu, dass ich die in die Richtung einer konstruktivistischen Epistemologie verweisende Beantwortung dieser Fragen einer kompetenten Beantwortung an anderem Orte anvertraue. Übrigens habe ich den Verdacht, mit Dr. András Kenessei und Attila Balla zwei sehr kompetente Gesprächspartner für dieses Thema vorzufinden. Bleiben wir beim Vermögen der Kunst. Führen wir den Gedanken von der Antizipation, der Vorwegnahme von politischen, sozialen, oder kulturellen Phänomenen in der Kunst einen Schritt weiter und suchen wir dafür Bestätigungen in der bildenden Kunst Ungarns. Was bereits in der kleinen hier präsentierten Auswahl auffällt, das ist die Vielfalt künstlerischer Positionen. Und weiters: der enge Bezug vieler Arbeiten zu den Diskursen zeitgenössischen Kunstschaffens. Das mag für jemanden überraschend sein, dessen Weltbild das Land hinter dem eisernen Vorhang nicht kannte und der nicht weiß, dass auch unter politisch sehr schwierigen Bedingungen Ungarns Künstler und Intellektuelle die internationalen Entwicklungen in allen Gebieten sehr wach nachvollzogen und verarbeitet haben. So finden wir noch heute Bezüge zu wesentlichen Künstlern des zwanzigsten Jahrhunderts wie Tapies, Leger, Ensor, Matisse oder den amerikanischen Minimalisten wie Robert Morris, Ad Reinhardt, Barnett Newman.

Innerhalb der politischen Grenzen vor dem Jahr 1989 war die von Kant eingeforderte Denkfreiheit vielleicht behindert. Die lebendigen und starken künstlerischen und intellektuellen Potentiale konnten auch damals nicht daran gehindert werden, über diese Grenzen hinweg an den internationalen Entwicklungen teilzuhaben. In den Köpfen und im Schaffen der Künstler war Ungarn schon immer ein lebendiger und fruchtbarer Teil des internationalen Kontinentes der Gegenwartskunst. Wirtschaft und Politik folgen nun Schritt für Schritt, zuletzt am 1. Mai in die Europäische Union. Künstler wie die hier ausgestellten begegnen nun den Managern und Politikern etwa so wie in der Fabel vom Wettlauf des Igels mit dem Hasen, indem sie ausrufen: Wir sind schon da!

Johann Berger

E: johannberger@chello.at
T: 0043-676-416-06-20