Statements und Assoziationen
Fellerer: Im Anfang war das Wort, damit schaffst du eine Vorstellung – z.B. die eines Körpers. „Logos“ entspricht eigentlich nicht dem „Wort“, sondern entspricht dem belebten Hauch, also einer „Welle“, einer „belebten Schwingung“.
Als unser aller gemeinsamer Urahn gilt, gemäß den Wissenschaftlern um William F. Martin vom Institut für Molekulare Evolution der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, ein kernloser Einzeller der für seinen Stoffwechsel Kohlendioxid, Wasserstoff und Stickstoff benötigte und vor 3,8 Milliarden Jahren entstanden ist und LUCA „Last Universal Common Ancestor“ genannt wird. Aus ihm entwickelten sich alle heute existierenden Bakterien, Pilze, Pflanzen, Tiere und der Mensch.
Und jetzt haben wir Archaea am Beginn des Lebens. Das ist noch kein Bakterium und kein Virus, sondern es ist ein Zwitterding. Das ist also unser Urahn.
Berger: Das erste Lebewesen?
Fellerer: Das erste Lebewesen. Ja, und man nimmt an, dass es im Bereich der heißen Vulkane entstanden sei. Wobei sich die Frage aufwirft, ob bei Hochtemperaturen tatsächlich ein Lebewesen entstehen konnte, so auch Christine Moissi-Eichinger, Professorin für Interaktive Mikrobiologieforschung an der MedUni Graz.
Berger: Jetzt hast du schon die beiden Antipoden eines Weltzuganges im Zusammenhang mit der Frage nach dem Wort angesprochen: einerseits das Mythologem und seine Erklärungsversuche des Lebensursprunges. Und auf der anderen Seite die abendländisch wissenschaftliche Zugangsweise, die der Ratio verbunden, Erklärungsmodelle für die Welt und das Dasein zu finden versucht.
Fellerer: Du nennst deine Objekte „Wortkörper“ und bezeichnest damit die effektive Aneinanderreihung grafischer Elemente, von Buchstaben. Damit gehst du nicht vom Wortsinn aus und verrätselst durch Buchstaben anderer Kulturkreise, die den meisten unbekannt sind. Und dann kommt noch dazu, dass du diese Modulationen der Schriftzeichen hintereinander bzw. übereinander setzt. So gewinnst du Räumlichkeit.
(Fellerer nimmt den Wortkörper „telos“ in die Hand.)
Berger: In diesem Fall sind es altgriechische Buchstaben. Das „Tau“ am Anfang, das „Sigma“ zum Schluss, ein „Epsilon“, „Lambda“, „Omikron“ dazwischen, also miteinander ergibt es „Telos“.
Fellerer: Aha, Telos ja. Na gut, also das ist ja an sich im Wesentlichen eigentlich gut erfunden, gut erdacht. Hat aber mit dem Wortsinn an sich wenig zu tun.
Weil das gesprochene Wort ist eine belebte und belebende Schwingung. Diese Schwingung erzeugt durch die Laute in uns ein Bild. Doch du gestaltest aus den grafischen Elementen nicht nur ein Bild, sondern einen dreidimensionalen Gegenstand.
Berger: Es ist ja noch komplexer, als du es jetzt skizziert hast. Weil hinter jedem Schriftzeichen ein in seiner Überlieferung vergessenes Piktogramm steht. Wenn du die Schriften vom Adrian Frutiger kennst, dann kennst du die Geschichte vom Stierkopf . . .
Fellerer: Ja, das kenne ich, der gekonterte Buchstabe A entsprach dem „Rind“.
Berger: … das im „A“ noch immer da ist. Und im Beta noch immer der Grundriss …
Fellerer: Das „Haus“, „Beth“ …
Berger: … das zwei Kammern zeigt …
Fellerer: … das Rind und die Behausung waren es, die der Mensch zum Leben brauchte. Sie stehen am Anfang.
Berger: Es sind die Zeichen einer Welt, einer Kultur, die mit diesen Signifikaten, die durch die Signifikanten, durch die Zeichen, repräsentiert werden, wesentlich determiniert war. Es ist eine agrarische Kultur, es ist eine Kultur, in der bereits gehandelt wird und verhandelt wird. Und in der es darum geht, dass diese Zeichen auch ausweisen, mit welchen Quantitäten ge- und verhandelt wird.
Fellerer: Der Mensch ist sesshaft und pflegt eine agrarische Kultur! Schon in der Steinzeit verwendete man Zeichen, um etwas mitzuteilen, so die Inschrift von Cogul. Zwei aufrecht stehende Füße, die das Betreten der Höhle verbieten sollen – „Betrittst Du die Höhle, dann bist Du tot“ so die Deutung. Doch vergessen wir aber nicht, dass z.B. die babylonische Keilschrift aus der Zeit Hammurabis deshalb verwendet wurde, damit man Befehle relativ rasch weitergeben konnte. So verwendete man Rollsiegel, die in Lehmziegeln abgerollt wurden. Jeder wusste dann, was gewollt wurde. Es war damit nicht nur ein Wort, sondern es waren mitgeteilte Zusammenhänge. Doch das Wort erzeugt immer ein Bild oder stimuliert Gefühl. Also wenn du zu einem, der nicht weiß, was „Telos“ ist, das Wort „Telos“ sagst, dann ist kein Bild da.
Anders ist es, wenn du „Tod“ sagst oder „Liebe“ und so weiter, dann entsteht ein Bild bzw. ein Gefühl, das durch Erfahrung und gespeichertes Wissen genährt wird. Wir sprechen von weiterführenden Bildimpulsen, von Assoziationen, wenn du z. B. Worte wie „Rose“, „Liebe“, „Nagel“, „Hammer“ und so weiter sagst. Es sind Ablaufassoziationen aber bei deinen Wortkörpern assoziere ich nicht das, was der Wortkörper ausdrücken will, bei „Telos“ z. B. Betroffenheit, sondern lege mein Bildvokabularraster über das Objekt und sehe dann das, was ich als Bildvokabular gespeichert habe.
Berger: Ich hole mir die Begriffe, mit denen ich arbeite, nicht aus der Alltagssprache, sondern aus den Sprachwelten, aus denen die abendländische Geistesgeschichte erwachsen ist. Es sind als tot bezeichnete Sprachen. Die althebräische und die griechische, aber beide Sprachen zeigen eine überraschende Aktualität, wenn die Begriffe, mit denen ich arbeite, beispielsweise in der Gegenwartsphilosophie nach wie vor diskutiert werden. Wenn du jetzt „Telos“ in der Hand hast, dann geht es um die Frage, ob die Geschichte zu einem Ende gekommen ist. Das ist ein Diskurs, der 1992 von Francis Fukuyama wieder aufgenommen worden ist. Es geht also um die Frage, ob der Begriff der Teleologie, also einer zielgerichteten Geschichte und einer Geschichtsschreibung, die davon ausgeht, dass Geschichte sich zweckgebunden, zielgerichtet entwickelt, nach wie vor Aktualität hat – oder nicht mehr.
Fellerer: Mich würde eines interessieren: Wenn du zum Beispiel das Gegensatzpaar „Eros“ und „Thanatos“ hernimmst und diese Begriffe mit unterschiedlichen Alphabeten zu „Wortkörpern“ formst, wirft sich die Frage auf, inwieweit da affine ästhetische Ähnlichkeiten entstehen?
Berger: Du meinst, die Typographie ändern?
Fellerer: Na klar, das hängt doch mit der Typographie und nicht dem Sinn zusammen. Es wäre spannend zu wissen, inwieweit sich äußerlich Wortkörper ähneln, wenn diesen, bei gleichem Begriff, griechische oder hebräische Buchstaben zugrunde liegen.
Berger: Das war der Ursprungsgedanke meiner Arbeit.
Fellerer: Das wäre also interessant, das Nebeneinander zu sehen – inwieweit da Ähnlichkeiten zutage treten. Ich habe mich in diesem Zusammenhang ein bisschen mit Buchstabenmystik und ähnlichen Dingen beschäftigt. Entscheidend ist dabei, wo in welchem Teil des Körpers ein Buchstabe im Körper schwingt. Aufgrund dessen ergeben sich dann eben eine ganz bestimmte Konditionierung und eine „Gestimmtheit“.
Karl Weinfurter schreibt z. B. in seinem Buch „Der brennende Busch“ von Buchstabenübungen, wobei Buchstaben, auch das Wort, Vibrationen erzeugen. Von der Basis an, also den Fußsohlen, lässt man einen Buchstaben so lange bewusst werden, bis man die Vibration des Buchstabens verspürt. Mit diesem Buchstaben geht man dann durch alle Körperteile, bis der gesamte Körper schwingt. Dann erweitert man dies durch den nächsten Buchstaben. Wenn man nun das Wort in dieser Form durchübt, dann dauert es natürlich relativ lange, bis der Körper zu diesem Wort wird. Wenn man aber das mystische Wort hat und das in sich verwirklicht hat, dann ist man durch die dahinter stehende Vorstellung zu „Adam Kadmon“ geworden. Wie auch immer, grundsätzlich geht es darum, dass der Buchstabe, das Wort in dir, zu klingen vermag.
Du möchtest aber, so scheint es, etwas anderes. Du kommst nicht von der Schwingung her, sondern vom typografischen Element. Mich würde aber interessieren, inwieweit die akustische Länge des Wortes den Wortkörper begrenzt. Es müsste ja ein Koordinatensystem sein, das beispielsweise dem Wort „T-E-L-O-S“ zugrunde liegt. Wenn du das Wort klingen lässt, dann ist damit eine bestimmte Dauer verbunden, die auch mit der Ausdehnung des Wortkörpers zusammenhängt. – Eigentlich ist es ein Ende-Nie- Projekt, das du machst.
Wie bist du überhaupt darauf gekommen? Du hast ursprünglich ja etwas ganz anderes gemacht, hast z. B. gemalt wie Monet – und Ähnliches.
Berger: Ja, das auch. Es hat aber mehr mit Gerhard Richter zu tun gehabt. Hin und wieder nehme ich immer noch die klassischen Materialien zur Hand. Meistens arbeite ich mit jenen Mitteln, die ohnehin bereitstehen. Und das sind die Grafikprogramme und die 3D-Programme, mit denen ich in meinem Beruf in der Verlagstätigkeit zu tun habe.
Fellerer: Es ist für mich unheimlich spannend, weil mich die Konsequenz der rapide zunehmenden Digitalisierung wirklich beschäftigt. Da wir uns in einem ziemlich begrenzten Raum mit endlichen Möglichkeiten bewegen. Da im Wesentlichen ein Element ausgeschaltet wird, das eigentlich für Kunst relativ wichtig ist, das Gefühl, das Affektive. Das spielt bei deinem Tun eigentlich keine Rolle. Du wählst nur das Wort, und alles andere unterliegt dem Zwang eines Systems. Aber: du kannst wirklich jedes Wort „darstellen“, „begreiflich machen“, doch ohne willkürlich subjektive ästhetische Interpretation.
Berger: In der Tat, jedes Wort ist als Wortkörper darstellbar. Meine subjektive ästhetische Ambition gleicht einer Suche nach der jeweils stringenten Form.
Fellerer: Aber hast du je probiert, denselben Begriff mit verschiedenen Typographien umzusetzen, hast du dabei Affinitäten entdeckt? Da würde mich interessieren.
Berger: Ich habe die beiden Schriftkulturen einander gegenübergesetzt. Ich habe den Begriff für „Staunen“ hergenommen, „Thaumazein“ und „Litmoa“ griechisch/hebräisch, habe diese beiden Begriffe in den ihnen zukommenden Typographien umgesetzt und diese Wortkörper dann miteinander verglichen. Du kennst die Computersimulation, die dabei herausgekommen ist, weil sie auf dem Roll-up abgebildet ist, das du so freundlich warst, zu produzieren. Ich habe dabei eine Arbeitshypothese erprobt, nämlich die Arbeitshypothese, dass sich die beiden aus diesem Prozedere resultierenden Wortkörper voneinander unterscheiden und zwar so, dass sie prima vista der einen oder anderen Sprachwelt zugeordnet werden können. Die ersten Arbeitsergebnisse haben mich auch darin bestärkt, dass es wirklich an der Form ablesbar sei, aus welcher Sprachwelt das Objekt kommt. Im Fortschritt meiner technischen Handhabung sind diese Unterschiede immer geringfügiger geworden. Und derzeit habe ich den Eindruck, dass das Prozedere, dem ich die Begriffe aus den unterschiedlichen Sprachwelten unterwerfe, die Unterschiede mehr ausgleicht, als dass es sie hervorhebt.
Fellerer (hält das Objekt „telos“ in Händen und betrachtet es während seiner Rede aus unterschiedlichen Perspektiven): Da würde mich der Begriff Ästhetik interessieren, der ja von „aisthesis“ kommt, von „Wahrnehmen“.
Wenn du diese Objekte vergleichst, würde mich die Bedeutung der Wortdauer interessieren. Denn wenn du eine bestimmte Wortdauer verwendest, müsste eine damit korrespondierende Länge herauskommen. Und weiters wäre die unvorbereitete Begegnung mit den Arbeiten interessant, in der die Betrachterin, der Betrachter fragen, „was ist denn das?“ Wenn ich deinen Aluguss „Telos“ betrachte, so ist für mich damit nahezu eine erotische Komponente verbunden. Denn der Betrachter packt beim Betrachten seine ihm eigenen gespeicherten Bilder aus, die er auf den Gegenstand projiziert und vergleicht, obwohl das doch nicht im Sinne des Erfinders sein kann – oder?
Denn im Wesentlichen ist es eigentlich ein Abgleichen, wenn du Worte aus verschiedenen Sprachkulturen hernimmst und diese Worte einfach, im wahrsten Sinn des Wortes als „Wortkörper“ hinstellst. Doch ist dein Tun keine eigentliche ästhetische Untersuchung. Für mich ist das, was du tust, eigentlich ein Spiel. Aber, das ist die Besonderheit, der Mensch ist dort am ehesten Mensch, wo er spielt.
Berger: Schiller!
Fellerer: Das „Spiel“ ist auch dort, wo Kunst passiert, wo Wissenschaft passiert. Da interessiert mich dein Ziel – wo soll es hingehen?
Berger: Das wird sich zeigen. Ich bin auch schon neugierig, wo das hingeht. Aber du hast jetzt einen Aspekt außer Acht gelassen, der mir wesentlich ist. Du hast es zwar im Performativ erlebt, aber noch nicht reflektiert. Während du gesprochen hast, hast du diesen Wortkörper in der Hand gehabt. Du hast den Begriff begriffen.
Fellerer: (lacht) Ja.
Berger: Und das ist der Punkt, um den es mir geht. Während wir uns als skopische Wesen bisher der Schrift in Sakkadenschritten genähert haben, und zwar seit Anbeginn der Schrift, und uns mit dem individualgeschichtlichen – aber auch menschheitsgeschichtlichen – Fortschreiten der Literarität immer virtuoser in diesen Sakkadenschritten des Lesens geübt haben, entziehe ich jetzt, durch dieses einfache Prozedere, dass ich die Buchstaben nicht nebeneinander lasse, sondern hintereinander positioniere, dieser Übung die Texte, die Worte, die Begriffe, die in den Schriftzeichen gesetzt sind. Aber ich eröffne der Hand, deinen Händen, ein Wahrnehmungspotenzial, das ihnen bislang nicht zugänglich war, weil wir in der Rezeption des Textes dem skopischen Treiben und dem Regime des Auges verhaftet waren.
Fellerer: Na ja, unabhängig davon: wenn ich das Objekt anschaue, dann finde ich sofort Ähnlichkeiten, also Ähnlichkeiten von Bildern, die mir bekannt sind. Das heißt, Teile zumindest davon. Das hier schaut aus wie eine Hand, die dort hinübergeht. Und wenn ich das umdrehe, schaut das dann da vielleicht wie ein Becken aus und Ähnliches. Das heißt, wir gehen immer von unseren Bildern aus, die wir dann da drinnen suchen, obwohl das Objekt an sich ja fernab von irgendeiner Zufälligkeit ist. Die Zufälligkeit ist eher umgekehrt, sie findet im Rahmen der „Interpretation“ statt. Das heißt, wenn du dieses Objekt kommentarlos irgendwohin stellst, werden die Leute sagen: „Aha, was ist denn das?“
Berger: Kunst ist nie voraussetzungslos lesbar. Es bedarf immer jenes Vermögens, das zu dekodieren, was in dem Kunstwerk angeboten wird.
Fellerer: Richtig, ich habe es so formuliert: Kunst setzt sich selber Bedingungen. Und das Kunstwerk beurteilt sich selber insofern, inwieweit die Bedingungen, die der Produzent sich selber gestellt hat, tatsächlich erfüllt wurden. Also das ist es. Das heißt, dass Kunst nicht beliebig sein darf, sondern Kunst hat die Aufgabe, den Menschen auf Spielregeln aufmerksam zu machen. Wenn dieser dann die Spielregeln kann, dann kann er das Spiel „Kunst“ mitspielen. Aber wenn er die Spielregeln nicht kennt, dann wird der Mensch damit nichts anfangen können. Das heißt, wenn deine Spielregeln nicht bekannt sind, dann sagt man, „aha!“ oder „potztausend!“. Das ist dann das Kunsturteil, das kommt. Aber was anderes kann er nicht sagen dazu. Was soll er sagen? „Was ist denn das? Ist das von einem verdrehten Abwasserrohr?“ – oder Ähnliches.
Berger: Kommt auf die Repräsentationssysteme an, die zur Verfügung stehen.
Fellerer: … na ja, die Bilder, die er kennt.
Berger: Wenn es ein kunstaffiner Betrachter ist, wird er vermuten: „Das könnte in der Nachfolge von Brancusi entstanden sein.“ Also da bin ich ein bisschen eitel und behaupte das.
Fellerer: (lacht) Der Brancusi hat dieses Programm nicht gehabt.
Berger: Nein, aber die Erscheinungsformen sind formal einander nicht ganz fremd.
Fellerer: Ja, ja, eines ist interessant. Also beim Brancusi oder Jean Arp und so weiter, geht es um die „Tangenslinie“, die letztlich auch bei Antonio Gaudi eine große Rolle spielte. Diese mathematisch harmonische Tangenslinie sei die Linie Gottes. Der weit erdigere Hundertwasser sagte richtigerweise, dass es keine gerade Linie gebe.
Zurück zu den Buchstaben und den Zeichen: Lore Heuermann, die kennst du ja auch, die geht von der Grundlage der chinesischen Schrift der Zeichnung aus, aus der das Zeichen erwuchs. Die chinesische Schrift ist damit in ihrem Ursprung viel stärker der Wirklichkeit verhaftet. Diese hat man immer mehr vereinfacht und es entwickelten sich Formen, wie sie heute da sind. Es sind aber nicht nur einzelne Buchstaben, sondern das sind ganze Begriffe, die mit einem einzigen Zeichen festgehalten werden.
Berger: Wie es in unseren Alphabeten auch angelegt war.
Fellerer: Ja, ja.
Berger: Die Konsonantenschrift geht auf Piktogramme zurück. Und es ist darum gegangen, den ersten Laut, der mit diesem Objekt zu tun hat, stellvertretend zu repräsentieren.
Fellerer: In der Wissenschaft geht man davon aus, dass das erste Schriftzeichen das von Cogul sei. Die aufgestellten Füße bedeuteten wahrscheinlich: „heiliger Raum, komme nicht hinein, sonst fällst du um und bist tot“.
Wenn du aber zum Beispiel die Runenschrift hernimmst, die ist ja auch in ihren Zeichen nicht nebeneinander, sondern untereinander positioniert. Sie haben nur bedingte Ähnlichkeit mit der Wirklichkeit. Das ist sicher ein weites Feld, das sich da eröffnet.
Nur mich hätte jetzt interessiert, inwieweit ein Begriff in deinem Objekt interpretierbar oder lesbar sein kann. (Betrachtet das Objekt „telos“) Wenn wir das zum Beispiel so hernehmen, das ist ein Herr mit einem dicken Bauch. Die Hand hat er so eingestützt, dann hat er da die Brust und da den Bauch.
Berger: Gerade bei diesem Wortkörper, den du in der Hand hast und als Herrn mit dickem Bauch siehst, hat es schon die unterschiedlichsten Deutungen und Assoziationen gegeben, von der geplatzten Vene, über durchaus erotische Konnotationen, bis hin zu vollkommener Ratlosigkeit. Da gibt es ein breites Spektrum. Aber die Versuche, in diesem Gebilde etwas wiederzuerkennen, was dem Wahrnehmungshorizont bzw. der eigenen Biographie nahekommt, das ist ein Kontinuum, dem setzen sich alle aus, wenn sie die Form sehen. Das ist wahrscheinlich ein genuin menschliches Unternehmen, das uns durch die eigenen Biographien schreiten lässt als Individuen, die es als Abenteuer erfahren, die Unwägbarkeiten des Schicksals auf Muster hin zu untersuchen, die interpretierbar sind.
Fellerer: Na ja, jedes Wort erzeugt im Menschen ein Bild. Und wenn er ein Bild sieht, dann sucht er das Wort dazu. Das korrespondiert eigentlich immer. Das heißt also, wenn er jetzt einen Gegenstand sieht, dann nimmt er sein gesamtes Vokabular an Bildwissen und legt es da drüber und sagt, „was ist jetzt ähnlich“. Er sucht also diese Affinität und damit zu gleicher Zeit den Zugang. Wenn er die Affinität nicht hat, hat er überhaupt keinen Zugang. Ein reiner Techniker, der nur gewohnt ist, in der Regeltechnik zu arbeiten, und nur auf die Detektoren schaut, wie sie ausschlagen und so weiter, der wird sagen, „das ist ein Blödsinn, was soll denn das, das ist schade um die Zeit, schade um das Material“.
Berger: Reinen Utilitarismen ist die Kunst noch nie entgegengekommen.
Fellerer: Der Vasarely hat mit deinen Ideen scheinbar nichts zu tun, aber vielleicht doch. In der konkreten Kunst, die diese Regelhaftigkeit und das objektiv Wahre und Richtige sucht, da gibt es kein „falsch“ in dem Zusammenhang. Dem rein positivistischen, einem wissenschaftlichen Denken als objektivem Denken im Sinne von positivem Denken, dem kommt dieser Gegenstand entgegen. Aber durch die Korrespondenz mit dem Gegenstand kommt die Interpretation. Das heißt, der Gegenstand ist nicht mehr der Gegenstand an sich, was er an sich ist, ein objektives, noch in einem Regelsystem erstelltes Element, sondern er wird etwas anderes, wenn du das Geheimnis nicht öffnest. Wenn du das Geheimnis nicht sagst, woher das kommt, sagt jeder „Aha“. Aber eines ist für mich so spannend in dem Zusammenhang: weil ja das affektive Element, also das Gefühl in deiner Kunst gar keine Rolle spielt, wird die Frage nach dem, was Kunst ist, wichtig. Wir haben es einmal zu einer Definition gebracht, was Kunst eigentlich ist. Da geht es darum, dass der Künstler in dem Kunstwerk immanent präsent ist. Das heißt, in deinem Fall ist der Künstler durch die Idee präsent. Aber ansonsten spielt weder dein Gefühl, deine Genesis, die persönliche Geschichte, noch das, was dir während der Produktion einfiel, eine Rolle. Du stehst eigentlich außerhalb …
Berger: Befindlichkeitsrhetorik vermeide ich eher.
Fellerer: … außerhalb des Objektes. Und das aber durchaus legitim. Das ist in unserer kalten Zeit völlig okay.
Berger: Da schwingt ein Vorwurf mit. Der Vorwurf lautet, das, was ich mache, sei in der Gefühlskälte und der Distanziertheit befangen. Und was abginge, wäre der Moment eines Sentiments, das zur Identifikation einlädt. Das ist ein Bild von Kunst und auch ein Rollenbild des Künstlers, das ich nicht bediene.
Fellerer: Ja, ja, sage ich ja.
Berger: Vielmehr habe ich mich von diesem Rollenbild
einigermaßen radikal gelöst und nehme auch die Genese dieses Rollenbildes wahr. Woher kommt denn das gesellschaftliche Bedürfnis, dass der Künstler auf eine ganz bestimmte Art und Weise in der Gesellschaft positioniert und adressiert sein soll?
Meine Arbeitshypothese ist, dass das Künstlerbild tief in der Romantik verwurzelt ist, und die Zeit, in der die Romantik sich entfaltet, eine Zeit ist, in der gesellschaftliche Umbrüche und gesellschaftliche Korsagen der jeweiligen Lebensentwürfe zu einem Unbehagen führen. Diesem Unbehagen entsprechend, entsteht das Konstrukt einer Persönlichkeit, die gleichzeitig innerhalb der Gesellschaft, aber doch aus ihr herausfallend, existiert. Nicht mehr den Korsagen verpflichtet ist, die die Gesellschaft den Individuen aufnötigt, sondern gleichsam als „edler Wilder“ ein Leben zu führen vermag, welches Sehnsüchte, Perspektiven, Utopien vorwegzunehmen scheint, die dem bürgerlichen Individuum vorenthalten bleiben.
Das ist das gesellschaftliche Konstrukt von Künstlerpersönlichkeiten, das bis in die Nachkriegszeit des 20. Jahrhunderts hinein eine Verbindlichkeit beanspruchen konnten. Seine meist männlichen Repräsentanten haben dieses Konstrukt auch willfährig bedient. Die Künstlerfürsten, suche sie dir in beliebigen Generationen aus, haben dieses Bild verfestigt, perpetuiert und jeweils in unterschiedlichen Kostümierungen auch gelebt.
Fellerer: Ich habe da eine ganz andere Ansicht. Ich vergleiche dein Wollen mit dem des Futurismus, der die Maschine letztlich zum Kunstwerk erhob. Damals kam das Auto auf, davon war man fasziniert, aber auch Panzer. Man war von diesen Kriegsmaschinen fasziniert und meinte, dass dem Krieg ein reinigendes Element eigen sei.
Ich folgere, dass wir zwei verschiedene Aspekte haben. Das eine ist der Ingenieur und das andere ist der Künstler. Der Künstler versucht seit den Felsmalereien in Altamira, mit seinem Bild die Seelen einzufangen. Das Bild an der Wand, das einem tragbaren Fenster entsprach, hatte später den Hoffnungen, den Wünschen der Auftraggeber zu entsprechen – bis hinein in die Renaissance.
In der Renaissance begann eine gewisse Verselbstständigung. Die Künstler begannen sich von Knüppeln zu befreien, die ihrer Arbeit in den Weg gelegt wurden. Immer schon hat es Gruppierungen gegeben, die vorgaben, wie es und was es sein muss, was sein soll und was sein darf. Die Schaffenden bekamen Material nur dann, wenn sie der Vorgabe und dem System entsprachen. Wenn nicht, dann bekamen sie kein Material. Die Disziplinierung war relativ simpel und wirksam. Ebenso machten es die Nazis.
Heute gibt es den ökonomischen Zwang, der etwas verunmöglicht.
Doch die Verselbstständigung des Künstlers, die Subjektivierung von Kunst führte dazu, dass Vieles unverständlich bleibt, da sich ausschließlich eine subjektive Welt materialisiert. Die nicht einmal individuell steuerbare subjektive Welt ist abhängig von jenem kleinen Hauch, jenem Wort, das ein Konzept obsolet werden lässt.
Dagegen stehen deine Wortkörper, die kein Wort aus dem Konzept wirft, sondern das, was du da machst, ist unabhängig vom persönlichen Bauchweh. Du kannst immer Wortkörper schaffen. Das ist kein Problem.
Ich vergleiche das mit der Zwölftonmusik von Josef Matthias Hauer zum Beispiel. Ich war es ja, der seinerzeit an seinem Geburtsort Wiener Neustadt eine Hauer-Renaissance eingeleitet hat. Da ist mir auch Viktor Sokolowski begegnet. Johann Sengstschmid hat nach Steinhauer dann eine Methode entwickelt, nach der jeder Mensch Zwölftonmusik komponieren kann. Schon Josef Matthias Hauer meinte, dass jeder Mensch innerhalb bestimmter Möglichkeiten, wie es auch das Zwölftonspiel ist, komponieren könne. Das Zwölftonspiel überhöhte er, indem er behauptete dass es die göttliche Sphärenmusik sei. Das heißt, Musik war ihm Sphärenharmonie. Und wenn wir nun auf den Sokolowski zurückkommen: ich habe einen Freund gebeten, dass er Hauer spiele. Sokolowski hörte dies und stellte fest, dass dies „viel zu musikantisch“ sei! Denn bei einem Zwölftonstück sei jeder Ton gleichberechtigt. Daher müsse man ein Zwölftonstück wie auf einer Schreibmaschine spielen. Das mag zwar dem Programm von Josef Matthias Hauer entsprechen, doch es ergreift nicht und dringt nicht in die Tiefe. Es ist an sich gut gedacht, aber es kommt nicht rüber.
Es ist somit die Begeisterung, die Besessenheit, die fehlt. Auch bei deinen Arbeiten fällt das Gefühl weg. Eigentlich ist es Ingenieurskunst. Es ist gut gedacht, ist ein Modellfall, eine der vielen Möglichkeiten konkreter Kunst. Ich denke da an Vasarely oder an Kurt Ingerl. Die haben Symbole, also Zeichen, genommen, diese Zeichen permutierten durch Drehungen, Spiegelungen, Verkippungen, was immer, wurden zu Superzeichen kombiniert, dann wieder verdreht, verkippt und so weiter. In weiterer Folge entstanden Supersuperzeichen, die auf ähnliche Weise verfremdet und montiert wurden. Das heißt, dass all dies sehr kopflastig ist. Tatsächlich spielst du ein Spiel – ein legitimes Kunstspiel.
Berger: Gotthard, vielen Dank. Du hast mich mit meinem Versuch in einem Atemzug mit dem Josef Matthias Hauer und mit dem Kurt Ingerl positioniert.
Fellerer: Ja sicher, du machst ja Konkrete Kunst.
Berger: Damit fühle ich mich nicht vor den Kopf gestoßen, sondern …
Fellerer: Soll ja auch nicht sein.
Berger: … durchaus verstanden. Es geht dir aber die Gefühlskomponente ab. Das kommt bei dir immer wieder als Gesprächsanknüpfungspunkt. Und ja, wollte ich eine Formel bemühen, um dieses Unterfangen, mit dem ich zu tun habe, zu umreißen, dann würde ich mich mehr bei „Sapere aude“ beheimatet fühlen, als bei welchen sentimentalen Ambitionen auch immer, so ehrenhaft sie auch in der Kunstgeschichte vertreten sein mögen. Dieses „Sapere aude“ ist ja in einer Zeit wie unserer, so sehr gefragt wie vielleicht schon lange nicht mehr, wären wir doch gefordert, einer zunehmenden Irrationalität überall dort, wo Barbarei sich realpolitisch manifestiert, etwas entgegenzusetzen. Dieses „Sapere aude“ würde als Echo der Aufklärung einer Wiederentdeckung heute durchaus gut anstehen, wenn wir uns darauf besinnen wollten, wer wir sind und woher wir kommen, und was dieser Begriff „Europa“ in der Gegenwart bedeuten kann. Die Frage nach unserem Herkommen verweist uns auf Denktraditionen, verweist uns auf eine Gemeinsamkeit, die in der Verbindlichkeit nicht nur von Werten, sondern auch von Narrativen und von Begriffen, die wahrgenommen werden möchten, eine wesentliche Grundlage für aktuelle Diskurse darstellen sollten. Nimm zum Beispiel die Begriffe aus dem alten Griechenland „Bios“ und „Zoe“ her. Beides wird im Lexikon mit „Leben“ übersetzt. Die Frage, wie Bios und Zoe sich voneinander differenzieren lassen, ist seit Aristoteles ein Gegenstand der Diskurse gewesen. Wenn wir also „Zoe“ als einen Begriff für „Leben“ verstehen, in dem es meinetwegen um spirituelle, aber sicher um soziale und kulturelle Lebenszusammenhänge geht, und wenn wir „Bios“ als jene Lebensaspekte wahrnehmen, die unser körperliches Dasein betreffen, dann wird ein Satz aus diesen Diskursen spannend, wo es heißt, den Göttern ermangele es an Bios. Sie verfügten über Zoe. Das ist ein innerer Widerspruch. Denn die Vorstellung des göttlichen Wesens, ist von seiner Vollkommenheit gezeichnet.
Wie aber kann es einem vollkommenen Wesen an irgendetwas mangeln? Hier ist der USP eines Narratives, das in dieser europäischen Geschichte wesentlich geworden ist, anzusetzen, nämlich die Fleischwerdung des Wortes. Erst in der Fleischwerdung des Wortes, kann ein Gottesverständnis diesen Mangel ablegen, der in den aristotelischen Diskursen deutlich geworden ist. Und diese Körperlichkeit, die mit dem von dir eingangs angesprochenen Logos, auch in der damit verbundenen Schrift, den damit assoziierten Zeugnissen apostrophiert ist, sehe ich in diesem Zusammenhang.
Fellerer: Ich habe den Eindruck, dass wir unter einer grundsätzlichen Veräußerlichung leiden. Das heißt, dass Begrifflichkeiten und alle anderen Dinge nach außen gelenkt werden und von dort auch gesteuert werden. Ich glaube, dass es wieder sehr wichtig wäre, die Dinge zu verinnerlichen. Die Veränderung und die Wahrnehmung von Welt, kann nur über das Innere passieren. Sie kommt nicht von außen her. Sondern es hängt grundsätzlich davon ab, was der Mensch von vornherein „an Welt, Mitgefühl, Erkenntnis und Wissen“ mitbringt. All dies wird durch einen Raster gerüttelt, und was dann wahrgenommen und registriert wird, ist dann das, was man allgemein „Welt“ nennt, die aber immer so ist, wie sie ist und sich keinen Deut darum schert, was der Einzelne meint, es sei denn, er ist ein Despot. Das heißt, der sogenannten objektiven Welt, die in sich scheinbar gefestigt ist, die sich in sich richtig meint, weil sonst ihre Gesetzmäßigkeiten nicht funktionieren würden, geht die Morphogenese ab. Ebenso der Mut zur Veränderung! Die Morphogenese hängt aber grundsätzlich von dem ab, was wir Zufall nennen. Ohne Veränderung gibt es kein Weiterschreiten, sondern nur Erstarrung. Also ein Endpunkt. Denn die absolute Vollkommenheit ist ident mit einer absoluten Dichtheit, in der die Zeit in sich zusammenfällt – Ewigkeit, also etwas, wo sich nichts verändern, nicht einmal etwas passieren kann. Das heißt, da gibt es keine Bewegungen mehr. Dann gibt es nur Starrheit, Kälte und kein Weiterkommen mehr. Alles ist dann vorbei.
Berger: Könnten deine Hände sprechen, sie würden uns etwas über einen Wahrnehmungszusammenhang erzählen, der nicht skopisch getrieben ist und in dem keine Bildprojektionen stattfinden müssten. Die Hände haben in ihrem taktilen Wahrnehmungshorizont andere Parameter. Und während du über das skopische Treiben gesprochen hast, haben deine Hände mit dem Objekt gespielt, haben etwas wahrgenommen und etwas empfunden. Etwas, das sich möglicherweise – und das ist wieder eine Arbeitshypothese – dem sprachlichen Zugriff nicht so leicht erschließt . . .
Fellerer: Mag sein, ja.
Berger . . . wie das Treiben, das uns über die Augen entgegenkommt.
Fellerer: Absolut richtig. Du darfst eines nicht vergessen: wenn du zum Beispiel jetzt so hergehst (führt die Hände nahe zueinander), spürst du schon das Wärmefeld von der anderen Hand. Das heißt, dass da ein Kraftfeld ist. Damit hängt auch das Problem der Gestik zusammen, der Körpersprache – auch der rituellen. Das heißt, es geht grundsätzlich um eine Bewegung im Raum, die dann da ist, die einfach etwas bewirkt. Mein Zugang ist aber der, dass ein Gegenstand Bilder in mir wachruft, die mit dem eigentlichen Sinn des Gegenstandes scheinbar nichts zu tun haben.
Berger: Wenn es mir gelingt, diesen Appell „Sapere aude“ im Zusammenhang mit diesen Begriffen auf unterschiedlichen Ebenen der Wahrnehmung weiterzugeben, dann ist dieses Projekt, mit dem ich zu tun habe, von einem gewissen Erfolg gekrönt. Lass mich noch kurz auf Zoe und Bios zurückkommen. Weil es geht ja darum …
Fellerer: Du hast ja diese Formen gemacht. Positiv und negativ. Ist es das nicht gewesen?
Berger: Gibt es auch, ja. Also Zoe habe ich jedenfalls …
Fellerer: Eben ja, ich kann mich erinnern.
Berger: … in dieser Acrylglasvariante umgesetzt.
Fellerer: Es ist spannend, wenn man da hineinschaut, das sieht toll aus.
Berger: Diese Differenz, die bei Aristoteles auftaucht, hat ja eine zutiefst aktuelle Komponente. Denn wenn ich dieser Lebensdimension Zoe verlustig gehe, also zurückgeworfen bin auf die biologischen Grundfunktionen, weil ich aus der Kultur, aus dem Sozialgefüge herausfalle und auf das nackte Überleben zurückgeworfen bin, dann sind wir dort, wo unsere Zeit das größte Problem hat, nämlich dort, wo Menschen aus ihrer Kultur, aus ihrer Gesellschaft vertrieben werden und im Mittelmeer zugrunde gehen, oder auf dem Weg von Kleinasien, dem Mittleren und Vorderen Osten nach Europa den unterschiedlichsten Gefahren ausgesetzt, zum Teil überleben, und zum Teil diese Barbarei, die sie überlebt haben, mitbringen.
Fellerer: Jetzt verstehe ich den Zusammenhang nicht.
Berger: Wenn wir herausfallen aus den Verbindlichkeiten, die mit dem Begriff Zoe zu tun haben, sind wir auf die biologischen Basisfunktionen des Überlebens zurückgeworfen. Worauf es mir ankommt, ist, dass diese scheinbar anachronistischen Begriffe Bios und Zoe, dass der Diskurs, der damit zu tun hat, heute eine überraschende Aktualität hat. Das – und die weiteren Begriffe aus meiner Arbeit – sind keine toten Begriffe. Das sind Begriffe, die ganz lebendig sind. Noch etwas, das sind Begriffe, die in der
europäischen Denktradition wesentlich sind. Und wenn wir heute in einer Situation sind, in der Europa erodiert und sich eine Kleinstaatlichkeit abzeichnet, mit einem Konfliktpotenzial, das wir schon längst überwunden geglaubt haben, dann ist gerade dieser Gedanke, der uns darauf hinweist, oder der die Frage aufwirft, woher wir kommen, und welchen Denktraditionen, Lebenstraditionen und welchen erkämpften und erlittenen Entwicklungsschritten wir verbunden sind, von einer Aktualität, die man den Objekten nicht prima vista ansieht. Sie erschließen sich erst, wenn diese Objekte und die in ihnen angelegten Begriffe, die handhabbar werden und die du in deinen Händen spielerisch erfasst hast, wenn es gelingt, das in eine Reflexion zu überführen, die in einer neuen Positionierung unseres Selbstbewusstseins mündet, in einem Europa, das es wirklich erst zu gestalten gilt.
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