Zur Veröffentlichung gelangte ein Teil des zweiten Beitrages
Als ob dem alttestamentarischen Diktum vom Anfang der Genesis zu folgen sei, ist in den Kunstkatalogen das Wort dem Bild vorgespannt. Es ist nicht eindeutig, wer in diesem Spannungsverhältnis als eingespannter Knecht zu ziehen hat und wer die Zügel in der Hand hält. Denn die Rache des Bildes an der dominanten Sprache bedient sich der wirkmächtigen rhetorischen Instrumentarien aus der unerschöpflichen Requisitenkammer der Metaphern. In diesen Gemächern sprachmächtiger Zurüstungen vollzieht sich das blasphemische Wunder, in dessen Verlauf das Fleisch zum Wort wird. Denn was immer die Metapher in die Rede überträgt, um dort dem Gedanken Anschauung zu verleihen, oder seine Adressaten zu berühren, kommt aus dem Karneval der Reize und Empfindungen. Erst was als Lust genossen und als Leid erduldet worden ist, was also über den Weg durch das Fleisch in die Erfahrung eingegangen ist, kann seine Transsubstantiation in das Wort wahrnehmen.
Wenn nun, wie wir von Wittgenstein gelernt haben, Sprache und Welt eine gemeinsame Grenze haben, die uns umzirkelt, dann bedarf es jetzt einer zweiten Grenzlinie weiter draußen, innerhalb derer wir mit jener aus der sinnlichen Erfahrung erwachsenen Gewissheit einer Welt jenseits der Sprachmächtigkeit begegnen. Diese Anmaßung einer zweiten Grenzlinie, eines Erfahrungshorizontes, zu dem hin sich die Terrains der unbeschreiblichen Lüste und Qualen erstrecken, diese Anmaßung mag die Adepten der Sprachgewalt seit den Anfängen der Schriftkultur empört haben, wenn sie an die weltbegründende Kraft des Wortes glaubten. Es scheint, als hätten sie und ihre Nachfahren den Sprechwerkzeugen nie verziehen, dass diese den Geschmack der Welt schon wahrnehmen dürfen, lange bevor sie die ersten Worte zu artikulieren vermögen, um dann – wer weiß – in ein Lamento über die vergebliche Sehnsucht nach der reinen Vernunft oder über die Bilderfluten aus den Kanälen der neuen Medien einzustimmen. Ist der polymorphe Eros erst einmal unter das Regime des Auges geraten, entfaltet sich das Schreckensszenario für den Ikonoklasten: er hat nichts mehr zu sagen.
Auf der Suche nach den Koordinaten für die Erkundungsreisen in den Kosmos des Werkes von Lubomir Hnatovič sind wir beim Ikonoklasten auf eine Tangente gestoßen, die über die reformatorische Bildaskese in die Bildpolitik des Byzantinismus und weiter bis in die alttestamentarische Kultur der prähistorischen Wüstenvölker des Vorderen und Mittleren Ostens verweist und so eine Kontinuität des Misstrauens gegenüber dem Bild vermuten läßt. Diese Tangente ist auch in die Moderne gerichtet. Es scheint, als sei mit der Emanzipation der Kunst – zuerst vom Auftraggeber, dann vom Kanon akademischer Sujets und nicht zuletzt vom Primat der Abbildung – eine der prominentesten Traditionen der Kunst an ihr Ende gelangt. Denn in der Königsklasse abendländischer Kulturanstrengungen ist wohl das mimetische Projekt an prominenter Stelle anzusiedeln. Und mit der Abstraktion bis hin zur Konzept Art oder den Situationisten scheint die Mimesis ihre Wirkmächtigkeit verloren zu haben. Allerdings weist Rudolf Burger1 wohl zu Recht darauf hin, dass mit dem Schritt von einer Mimesis an der Natur zu einer Mimesis an der Idee eben jenes mimetische Projekt eine unbefristete Prolongierung erfahren hat.
So sind wir Zeugen einer Implosion geworden, in der die beiden Pole einer Welt des vermeintlichen Kunstverständnisses, die Abstraktion und die Gegenständlichkeit, ineinander fallen und sich (wenn überhaupt) nur durch die Differenz von Natur und Idee voneinander abheben. Malewitsch kommt nun mit seinem Schwarzen Quadrat wie eine Reinkarnation des legendären Parhassios aus den Erzählungen Plinius des Älteren daher. Der täuschend wirklichkeitsnah gemalte Vorhang aus der antiken Erzählung und die eleganteste Formel aus den Labors abstrakter Malerei erweisen sich als Geschwister in der Familie des mimetischen Projektes. Die Künstler mögen sozusagen in unterschiedlichen Mannschaften spielen, aber sie bewegen sich zur Freude Lubomirs auf demselben Spielfeld.
Als rezenter Kapitän in diesem Match wird Gerhard Richter zu nennen sein, wir können jedoch nie sicher sein, mit welcher Mannschaft er auf das Spielfeld kommt. Zu leicht fällt ihm der Seitenwechsel. Doch wenn Lubomir Hnatovič Richter zitierend sagt: „Ich male nicht nach Fotografie, ich male Fotografie!“, dann wird deutlich, dass es in diesem Spiel schon längst nicht mehr um Torresultate geht, sondern vor allem um schöne Spielzüge. Die Resultate aus diesen imaginären Ballwechseln quer über das mimetische Spielfeld kommen als Malerei daher, im Fall des Lubomir Hnatovič als Malerei, die Referenzen zu den größten Spielern auf diesem Feld zeigt, wie Brigitte Borchardt-Birbaumer2 2003 ausführlich dargestellt hat und neben Goya, Ribera und Hieronymus Bosch auch Watteau, Beckmann und Francis Bacon nennt.
In diesem Namedropping fehlt uns ein Name, und zwar jener von David Hockney, jedoch nicht in Zusammenhang mit seinem Werk als bildender Künstler, sondern wegen eines Buches aus seiner Werkstatt. 2001 hat er eine Analyse der Kunstgeschichte seit 1150 n. C. unter dem Titel „Geheimes Wissen“ publiziert3. Hier untersucht er aus dem Blickwinkel des Künstlers, der es gewohnt ist, mit optischen Hilfsmitteln zu arbeiten, ob und wo ähnliche Techniken angewendet worden sein könnten. Seine Experimente mit der Camera obscura und der Camera lucida führten ihn zu Ergebnissen, die den Einsatz vergleichbarer Geräte in weit umfangreicherem Ausmaß, als von der Kunstgeschichte bisher angenommen, vermuten lassen. Demnach war es die Zeit um 1430, als optische Hilfsmittel die Malerei Flanderns zu einem bisher nicht erreichten Realismus geführt hätten. Immerhin kämen die technischen Voraussetzungen für diesen Qualitätssprung aus der gemeinsamen Branche der Maler und Spiegelmacher, denn beide Berufsgruppen waren in einer Gilde organisiert. Von Flandern aus habe der Einsatz von Spiegeln und Linsen die Malerei Europas revolutioniert.
Neben den Gesetzen der Zentralperspektive ist also in hohem Maß der Einsatz von optischen Geräten – wollen wir Hockney in seinen Überlegungen folgen – ein konstituierender Faktor für das Bild, wie es sich das Abendland von der Welt macht. Die augenscheinliche Wirklichkeit kommt jedoch als Bild des einäugigen Blickes daher. Die Königsdisziplin des mimetischen Projektes kann uns nur täuschen, wenn wir uns den Blick des Zyklopen angeeignet haben. Das binokulare Sehen mit seiner Tiefenwahrnehmung bleibt als Thema den Experimenten der Stereofotographie und später den 3d-Produktionen für das Kino vorbehalten.
Auch Lubomir Hnatovič ist der monokularen Konvention verbunden, jedenfalls in seinen Stilleben, und thematisiert dort, dem Diktum von der gemalten Fotografie folgend, das Primat des einäugigen Blickes. Dass er dieses Unternehmen mit den Mitteln altmeisterlicher Maltechniken verfolgt (die er behutsam durch aktuelle Materialien bereichert), ist wohl eine Konsequenz aus dem ikonographischen Inventar seiner Sujets. Er arrangiert im gar nicht zufälligen Aufeinandertreffen auf seinem Arbeitstisch Alltagsgegenstände aus Küche, Bibliothek und Werkstatt mit tierischen und menschlichen Schädelknochen. Die Tischplatte wird zur Bühne, auf der die Objekte in den ihnen zugeschriebenen Rollen als Bedeutungsträger das alte Welttheater vom Leben und Sterben in immer neuen Variationen zur Schau stellen. Es sind alte Rollen, die Bildsprache speist sich aus zum Teil antiken Überlieferungen. Der Granatapfel ist hier zu nennen, mit seinem Bezug zum Fruchtbarkeitsmythos um Demeter und Persephone, seinem Platz im Hohelied Salomos oder seiner Bedeutung im Chris-tentum als Symbol für die Kirche als Ekklesia. Jüngere Referenzen weisen in die Welt der kaufmännischen Abenteuer im Handel mit Waren aus Übersee: Zitrusfrüchte und exotische Muscheln tragen noch die matten Spuren jenes Glanzes, der einst auf dem weit gereisten Helden ruhte. Und immer ist eine tragende Rolle dem Licht zugedacht. Oft ist es die Sonne, die durch das Fenster des Arbeitsraumes die Bühne seiner Arrangements erhellt, zuweilen verdrängen die Schatten aus der Welt draußen die Objekte aus der Bildfläche und erinnern an das wohl wirkmächtigste Bild der Philosophiegeschichte, an das Höhlengleichnis Platons. Gelegentlich irritieren Details eine vermeintliche Idylle, aber sie erschließen sich nur dem aufmerksamen Betrachter, der bemerkt, dass auf einem Strick rote Flecken wie von Blut sind. So spannt Lubomir Hnatovič die sichtbaren Dinge ein und lässt sie geheimnisvolle Geschichten erzählen, in einer Sprache, die das Ohr nicht hören kann. Meistens gehorchen die Geschichten der Triebökonomie aus Gier und Angst, das sind die Antagonisten der Aktienmärkte und die latenten Hauptakteure in den visuellen Predigten der Vanitas-Motive. Übrigens sind sich die Sprachen Europas nicht einig über den Sammelbegriff jener Disziplin, aus der Lubomir Hnatovičs Werksegment stammt: die Termini „Stilleben“ und „nature morte“ heben den Antagonismus in die Gelehrtensprache und so haben sich die bedauernswerten Kunsthistoriker zwischen dem geräusch- und bewegungslosen Leben einerseits und der toten Natur auf der anderen Seite zu entscheiden, wenn sie sich mit dem Rüstzeug ihrer Zunft an die gemalten Früchte und Knochen heranmachen.
Allerdings ist über die „nature morte“ eine Reflexionsebene zu erschließen, die uns in der deutschen Sprache nicht ohne abgründige Umwege zugänglich ist. Denn im Französischen gewinnen die Objekte in der Redewendung „Les choses me regardent“ („Die Dinge sehen mich an“) ein Leben, das man in der „nature morte“ nicht vermuten wollte. Eine Entsprechung im Deutschen, wo die Dinge mich anblicken, ist allenfalls in der Umgangsprache zu finden, wo „mich viel Arbeit anschaut“, oder im Denken Friedrich Nietzsches: „…wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“4
Für die sich an der Sprache entlang vorarbeitende Psychoanalyse in der Freud’schen Nachfolge eröffnen „Les choses“ mit ihrem schillernden Blick ein fruchtbares Feld für Reflexionen. Bei Jacques Lacan5 gewinnt in diesem Zusammenhang ein Requisit aus den Stilleben Lubomir Hnatovičs, der Spiegel, eine grundlegende Bedeutung, wenn er in der Entwicklung des Kleinkindes etwa in der Zeit des 6. bis 18. Lebensmonats das Spiegelstadium („le stade du miroir“) erkennt, das ihm so wesentlich im Prozeß der Psychogenese erscheint und aus dem der Säugling nach der „jubilatorischen Aufnahme seines Spiegelbildes“ (Lacan) mit der lebensbegleitenden Frage hervorgehen wird: „Wie sehen mich die Anderen?“. Dieser Schritt zur Identifikation mit dem Spiegelbild führt in eine Daseinsdimension, die bereits bei Kierkegaard thematisiert wird. Denn ein Bewusstsein seiner selbst zu haben heißt, in ein Verhältnis zu sich selbst treten zu können, also zugleich Subjekt und Objekt dieser Wahrnehmung zu sein. Beim Existenzialisten Kierkegaard liegt in diesem Spannungsverhältnis eine der menschlichen Grunderfahrungen, wenn sie als „Krankheit zum Tode“ in der vergeblichen Suche nach dem eigenen Selbst oder im Wunsch nach einem anderen Selbst in die Verzweiflung führt. Als ob die scheinbar inkompatiblen Größen, der „jubilatorische“ Blick in den Spiegel und die „Krankheit zum Tode“ einer vereinenden visuellen Formel bedürften, findet Lubomir Hnatovič zu einer einfachen Geste: er kombiniert den Schädel mit dem Spiegel. Ein großer Anderer blickt uns nun über sein Spiegelbild entgegen, allerdings mit den leeren Augenhöhlen der Schädelknochen. Der gemalte Spiegel ist hier auf zweifache Weise seiner Aufgabe enthoben, als Ursprung jubilatorischer Selbstwahrnehmung zu dienen. Zum einen hat er der ikonographischen Tradition des memento mori zu dienen, zum anderen ist es dem Artefakt im Gegensatz zum Requisit im Atelier versagt, die Erscheinung des Betrachters wiederzugeben. So hat sich ebendieser Betrachter angesichts des gemalten Spiegels in einer Rolle aus der Trivialliteratur zu gefallen, nämlich in jener des Vampirs, der als Untoter seines Spiegelbildes verlustig geworden ist, denn im gemalten Spiegel kann er sich nicht sehen.
Anmerkungen:
1 „Tatsächlich hatte die bildende Kunst, entgegen einem geläufigen Vorurteil, ja niemals aufgehört, mimetisch zu sein, sie ersetzte nur die Mimesis an der Natur durch die Mimesis an Ideen.“ Rudolf Burger, „Die Heuchelei in der Kunst“; wespennest 113, Wien, 1998; http://www.philosophicum.com/archiv/Band2.pdf
2 Brigitte Borchardt-Birbaumer, Vorwort zum Katalog: Der „Ecce-homo“-Zyklus, 2003, Eigenverlag.
3 David Hockney, „Geheimes Wissen – Verlorene Techniken der Alten Meister wieder entdeckt von David Hockney“; Knesebeck GmbH & Co. Verlags KG, München, 2001
4 Friedrich Nietzsche, „Jenseits von Gut und Böse – Vorspiel einer Philosophie der Zukunft.“ Viertes Hauptstück: Sprüche und Zwischenspiele; 146. Der vollständige Wortlaut ist: „Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehen, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“
5 Jacques Lacan, „Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion“, Vortrag vor dem 16. Internationalen Kongreß für Psychoanalyse, Zürich, 17. 7. 1949; dt. „Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion“, übersetzt von Peter Stehlin, in: ders., Schriften, Bd. 1, hrsg. von Norbert Haas, Olten und Freiburg i. Br.: Walter, 1973, S. 63–70.
Zuweilen verzichtet Lubomir Hnatovič auf optische Hilfsmittel. Dann malt er nicht Fotografie sondern widmet sich den Pandämonien eines Menschenbildes, das die Kierkegaard’sche Verzweiflung in der dumpfen Existenz des getriebenen Sinnenwesens in Szene setzt. Nachdem er sich in der „nature morte“ immer konsequenter dem Knochen angenähert hat, also jener des Fleisches entkleideten Substanz, welche als Restbestand unser physisches Daseins am weitesten in die Zukunft zu tragen vermag, geht er in einem weiteren Werksegment einen Schritt zurück und landet – noch bevor der Gestank der Verwesung das Treiben der Welt in die Stille führt – im Karneval. Im Gleichnis der Fastnacht und ihres närrischen Treibens findet er das Drehbuch seiner Szenarien, in denen er uns vor Augen führt, wie der Geschmack der Triebwelt, wie der gierige Zugriff auf das Fleisch und seine Sensationen die Erfahrungshorizonte auf die Welt jenseits der Vernunft hinaus schieben möchten. Es scheinen anstrengende Übungen zu sein, denen er die anamorphen Körper auf seinen Bildflächen aussetzt. Artistische Verrenkungen sind vonnöten, wenn die verknoteten Wesen ihre ersehnten Reize und Empfindungen auskosten wollen. Aber sie sehen nicht. Ihre Weltwahrnehmung ist auf den tastenden Griff beschränkt, auf das Schmecken und auf das Gehör, und wir zweifeln daran, ob der Griff jemals zum Begriff gelangt, ob das Schmecken zum Geschmack führt und das Hören je ein Wort vernehmend zur Vernunft kommen wird. Im orgiastischen Getriebe der Körperknoten mit ihren disparaten Anatomien erscheinen die adulten Versatzstücke als Reinkarnation einer polymorphen Sinnlichkeit, die erst mit dem schicksalhaften Blick in den Spiegel in eine neue Daseinsebene gehoben würde. Aber Lubomir Hnatovič lässt seine anthropomorphen Konstrukte ohne den Gesichtssinn dahinvegetieren. Er versagt ihnen die Initiation zur Selbsterkenntnis. Damit erspart er ihnen womöglich jene „Krankheit zum Tode“. Aber liegt in der unübersehbaren Anstrengung ihres Treibens nicht eine Ahnung vom bevorstehenden Abschied des Fleisches, der –„carne vale“ (das heißt „Fleisch, lebe wohl“) – den Anstoß für das närrische Treiben gibt? Die Protagonisten dieses Spektakels haben nie von den Granatäpfeln aus dem Baum der (Selbst-) Erkenntnis gekostet. So ist ihnen die Scham fremd und sie bleiben blind gegenüber der Welt, denn ihr Schöpfer hat ihnen die Augen nicht aufgetan. Die Plage des Blickes, wenn er der Erkenntnis vorgespannt ist und der Jubel in der Erkenntnis bleiben ihnen erspart. In welcher Welt leben sie? Ist es das Paradies einer infantilen Freiheit vom Selbst oder die Hölle der ewig ungesättigten Begierden und des Stumpfsinns? Oder haben wir es auch hier mit einer Implosion zu tun, in der die Pole einer dichotomen Welt ineinander fallen und sich die Gärten des Paradieses unversehens mit den Abgründen der Hölle vermählen?
Das Vanitas-Motiv stellt in diesen Sujets nicht die Frage nach dem Ziel unserer Existenz und der Eitelkeit irdischer Umtriebe. Es ist eine andere Wahrheit, die hier gesucht wird, eine, die in der Fleisch gewordenen Biomasse einen Zeugen vermutet für das kosmische Drama, vom dem seit mehr als zweitausend Jahren erzählt wird. Die gnostischen Erzähltraditionen reichen weit zurück in die Spätantike und begleiten die Karriere des Christentums als deviante Mythologie, gegen deren wirkmächtiges Narrativ die Scheiterhaufen der Inquisition vergeblich gebrannt haben. Danach ist die Welt das Werk eines stümperhaften Demiurgen, der die Funken des göttlichen Lichtes in Verließe aus Fleisch gesperrt hat, wo sie sich zurücksehnen in das Dasein vor dem Sturz in diese finstere, irdisch-materielle Welt. Die Aufforderung zur Selbsterkenntnis, „gnothi seauton“, erkenne dich selbst, richtet sich an jene Lichtwesen, die im Fleisch gefangen sind und die den vielfältigen Erzählungen aus der spätantiken Welt den Sammelbegriff „Gnosis“, also „Erkenntnis“ gegeben hat.
Das „wahre“ Bild des Menschen zeigt bei Lubomir Hnatovič – wie es bereits Brigitte Borchhardt-Birbaumer angedeutet hat1 – in manchen Arbeiten Verwandtschaften zu den Portraits aus dem Schaffen des Francis Bacon. Als ob die biologischen Formen sich auf das Menschenbild beziehen möchten, es jedoch völlig entstellen, bringt Lubomir Hnatovič in der Nachfolge Bacons eine gleichsam gnostische Wahrheit in das Bild vom Menschen.2
Die Rache des Bildes an der dominanten Sprache findet auch dort seine Spielfelder, wo die banale Alltagswirklichkeit zur Metapher überhöht, an Bedeutung gewinnt. So nehmen wir das Atelier des Lubomir Hnatovič, im Tiefparterre einer Wiener Cottage-Villa gelegen, als Terrain an der Grenze zwischen oben und unten wahr. Er lebt und arbeitet unterhalb der bürgerlichen Daseinsebenen, die „Zu ebener Erd’ und im ersten Stock“ angesiedelt sind. Das ist ein guter Ort für einen Beobachter, dessen Augenhöhe mit dem Epigaion, dem Lebensraum über der Erde zusammenfällt, der mit seinen Füßen schon die chthonischen Gefielde berührt und dessen wache Sinne notieren, was das Leben und Sterben in der Belle Etage ausmacht. Der Arbeitsplatz an der Grenzlinie, erscheint so als magischer Ort zwischen dem Augenscheinlichen und den unheimlichen Abgründen, als Übergang, den die Alten dem Hermes überantwortet haben, wenn er die Seelen auf ihrem Weg in die Tiefen zu begleiten hatte, in denen der chtonische Zeus regiert.
Wieder geht es um jenen Moment, in dem Licht in die dunkle Höhle fällt und den Schatten ihre Gestalt verleiht. Darin liegt der Charme des Übergangsortes, in dem das manichäische Drama vom Licht und vom Dunkel seinen Raum erhält. In ihm findet – so erzählt uns der ältere Plinius im ersten nachchristlichen Jahrhundert und zitiert damit Xenokrates – das mimetische Projekt seinen Ursprung. Denn als der Geliebte Abschied nimmt, zeichnet die Tochter des Butades seinen Schatten nach, um dem flüchtigen Bild Dauer zu verleihen.
Aber aus dieser Übung erwächst mit der Frage nach dem wahrheitsgetreuen Bild ein Anspruch an die Kunst, an dem der Kanon mimetischer Kunstfertigkeit scheitern wird. Selbst wenn die Wahrheit des Schattens als teleologische Formel für die Flüchtigkeit irdischer Existenz dem künstlerischen Geschick auch künftiger Künstlergenerationen eine Herausforderung sein mag – und sei es mit Hilfe optischer Apparate – die Frage nach der wahren Gestalt übersteigt das Bedürfnis nach der Illusion und eröffnet der Kunst ihre Entfaltung jenseits der Mimesis.
So finden zwei scheinbar disparate Werksegmente aus dem Übergangsort des Lubomir Hnatovič neben der Gemeinsamkeit ihres topographischen Herkommens auch einen gemeinsamen geneologischen Ursprung, diesmal ohne den Kunstgriff Rudolf Burgers zu benötigen. Denn die Mimesis an den Ideen hat sich somit am Wahrheitsbegriff abzuarbeiten, konkret an so etwas wie „Lebenswahrheit“. Damit wird die Kunstfertigkeit zur Dissidentin im Einflussbereich des Schönen und liebäugelt mit dem Wahren, jener weiteren platonischen Kategorie aus der Wertetrias des Wahren, Guten und Schönen, die den Humanismus des Okzidents begleitet.
Die Frage nach der Wahrheit hinter der Kunst – und hinter der Natur – erscheint paradigmatisch am Beginn der Moderne und findet eine prominente Artikulation bei Paul Cézanne3:
Alles, was wir sehen, nicht wahr, verstreut sich, entschwindet. Die Natur ist immer dieselbe, aber von ihrer sichtbaren Erscheinung bleibt nichts bestehen. Unsere Kunst muß ihr das Erhabene der Dauer geben, mit den Elementen der Erscheinung all ihrer Veränderungen. Die Kunst muß ihr in unserer Vorstellung Ewigkeit verleihen. Was ist hinter der Natur? Nichts vielleicht. Vielleicht alles. Alles, verstehen Sie. (…)
Um sie (die Landschaft, Anm. d. V.) auf die Leinwand zu bannen, sie aus sich herauszustellen, muß dann das Handwerk einsetzen, aber ein ehrfurchtsvolles Handwerk, das auch nur zu gehorchen bereit ist unbewußt zu übertragen. Denn man beherrscht seine Sprache, den zu entziffernden Text, die beiden gleichlaufenden Texte, die gesehene Natur, die empfundene Natur, die dort draußen (er deutet auf die grüne und blaue Ebene) und die hier drinnen – (er schlägt sich an die Stirn), beide müssen sich durchdringen, um zu dauern, zu leben, ein halb menschliches, halb göttliches Leben, das der Kunst, hören Sie – das Leben Gottes. Die Landschaft spiegelt sich, vermenschlicht sich, denkt sich in mir. Ich objektiviere sie, übertrage sie, mache sie fest auf meiner Leinwand.
Die Worte, die Paul Cézanne formuliert hat und die den Arbeiten von Lubomir Hnatovič somit vorangespannt worden sind, sind aufgezeichnet worden. Zuerst wohl als Phoneme auf Tonband, dann als Grapheme im Transkript, zuletzt als Zitat hier gedruckt. Wenn dieser Text eine Leserin, einen Leser findet, trifft das reflektierte Licht auf die Netzhaut, die Rezeptoren leiten den dort wirksamen Reiz über einen komplexen Prozeß in den Sehnerv, von wo aus eine Kaskade an neuronalen Prozessen unterschiedliche Regionen im Gehirn erreicht. Unter anderem jene kortikale Region, die als Visual Wordform Aerea ein rasches Erkennen ganzer Satzteile ermöglicht und in Kooperation mit den Sprachzentren, vor allem der Wernike-Region und dem Gyrus Angularis ein Verständnis des Gelesenen vorbereitet. Alle diese Prozesse basieren auf neuronalen Aktivitäten. Jedem aufgezeichneten Wort entspricht ein einzigartiges Muster in diesem Zusammenspiel neuronaler Aktivität. So vollzieht sich in diesem Moment das Wunder einer Fleischwerdung des Wortes. Es gehört zu den Usancen des Kunstbetriebes, dass diese Fleischwerdung den Bildern des Lubomir Hnatovič vorangeht, bevor die Leserschaft dem Karneval der Reize und Empfindungen überantwortet wird, auf dass nun auch das Bild zum Fleisch werden möge. Saftiges Fleisch, an dem die Vampire Freude haben!
Anmerkungen:
1 Brigitte Borchardt-Birbaumer, Vorwort zum Katalog: Der „Ecce-homo“-Zyklus, 2003 im Eigenverlag erschienen
2 1962 hat Francis Bacon in einem Interview auf die Frage geantwortet, ob er jemals ein abstraktes Bild hätte malen wollen: „Ich wollte Formen in der Art darstellen, wie ich anfänglich die drei Formen am Fuß der Kreuzigung machte. Sie waren beeinflusst von den Sachen, die Picasso am Ende der zwanziger Jahre machte, und ich glaube, es gibt einen ganzen Bereich, Picasso hat ihn angedeutet, der sozusagen unerforscht geblieben ist, den Bereich der organischen Form, die sich auf das Bild des Menschen bezieht, aber dessen völlige Entstellung ist.“
Das Gespräch mit David Sylvester wurde am 14. 7. 1963 im Sunday Times Colour Magazine veröffentlicht und ist 1982 in der Übersetzung von Helmut Schneider auf deutsch erschienen: „Gespräche mit Francis Bacon“, München: Prestel.
Vgl. auch: Harrison, Charles und Wood, Paul: „Kunsttheorie im 20. Jahrhundert – Künstlerschriften, Kunstkritik, Kunstphilosophie, Manifeste, Statements, Interviews“, Band 2,Verlag Gerd Hatje, Ostfildern-Ruit bei Stuttgard, Seite 762.
3 Paul Cézanne: Über die Kunst. Gespräche mit Gasquet und Briefe, herausgegeben von Walter Hess, übersetzt von Elsa Glaser, Reinbeck bei Hamburg 1957, S. 8-10
Vgl. auch: Macho, Thomas H., Moser, Manfred und Subik, Christof: „Ästhetik“ Arbeitstexte für den Unterricht, Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart, 1998, Seite 60.
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